"Weiter für Gerechtigkeit kämpfen" – Kanada und der Völkermord an Indigenen
von Maria Müller
In Kanada wurden über 4.200 Frauen und Mädchen der Volksgruppen Inuit und Metis während der letzten vier Jahrzehnte ermordet, entführt oder vergewaltigt. Nur dank der unermüdlichen Arbeit einer Gruppe von indigenen Frauen, die jahrzehntelang gegen die Straflosigkeit bei diesen Verbrechen ankämpfte, kam es schließlich zu einer umfassenden offiziellen Untersuchung.
Im Juni überreichte Premierminister Justin Trudeau den anwesenden Angehörigen der Opfer und Vertreterinnen der Ethnien persönlich den über 1.000 Seiten starken Bericht der Untersuchung und erklärte vor laufenden Mikrofonen, dass Kanada die Bezeichnung "Völkermord" akzeptiert. Denn der Bericht reicht bis in die Vergangenheit zurück, in die Zeit der kolonialen Verfolgung der Ureinwohner.
Wir akzeptieren das Ergebnis der Untersuchung. Es handelt sich um einen Genozid. Wir werden alles dafür tun, um diese immer noch andauernde nationale Tragödie zu beenden", so Trudeau.
Michelle Audette, Mitglied der Untersuchungskommission und der Frauengruppe, die unerschütterlich nach der Wahrheit suchte, sprach mit eindringlichen Worten bei der Übergabe der Studie zu den Anwesenden: "Die Opfer wurden vor Gericht nur als 'die Indianerin' bezeichnet, ihre Namen hat man nicht erwähnt. Dabei sind sie Menschen, wundervolle Geschöpfe, sie haben einen Namen!"
Audette erinnerte an eine ihrer schockierenden Erfahrungen mit lokalen Justizbehörden:
Das Schlimmste war deren Schweigen, als wir ihnen die Dokumente mit den Recherchen über die Morde vorlegten. Sie saßen regungslos da, sagten kein Wort und schauten uns nur an.
Erste offizielle Untersuchung des kolonialen Völkermordes
Vor drei Jahren hatte Trudeau eine staatliche Untersuchung der Verbrechen gegen die kanadischen Indigenen angeordnet und damit ein Wahlkampfversprechen eingelöst. Es ist die erste offizielle Untersuchung der rassistischen Straftaten in der Geschichte Kanadas. Zutage trat ein systematisches Entwurzeln, Vertreiben und Ermorden der Angehörigen der "First Nations" ("Ersten Nationen").
Eine bis heute in den Institutionen vorherrschende koloniale Staatsraison ist dafür verantwortlich, und "eine über Jahrhunderte bewusst praktizierte Regierungspolitik, die einen Genozid bewirkte", so die beauftragte Untersuchungskommission. Ihr Leiter Marion Buller sagte:
Unsere Arbeit kam zu einem Ergebnis, dem wir uns nicht entziehen können: es handelt sich um einen kolonialen Genozid. Er ist Teil der Geschichte Kanadas.
"Jetzt haben wir für alle Zweifler 1.071 Seiten, um den Völkermord zu beweisen", erklärte Trudeau bei dem feierlichen Akt. Eine kritische Revision der Geschichte Kanadas und seines Umgangs mit der indigenen Bevölkerung sei notwendig.
Bei der drei Jahre andauernden Untersuchung wurden gut 2.000 Familien befragt. Viele von ihnen haben sich vergebens bemüht, den Verbleib ihrer vermissten Mütter, Töchter oder Schwestern zu klären. Daran hat auch die Untersuchungen nichts ändern können, die bislang keine Fälle aufgeklärt und mögliche Täter ermittelt hat. Auch blieb der Gewaltindex in Kanada unverändert hoch.
Manche Familien und Indigenen-Organisationen erarbeiteten Änderungsvorschläge für die kanadische Gesellschaft und ihre Institutionen. Dazu zählen eine größere Beteiligung der Ureinwohner in Regierungsämtern, in der Justiz und der Verwaltung.
Laut Marion Buller verbindet die Verbrechen eine Gemeinsamkeit:
Trotz der unterschiedlichen Umstände, unter denen die Verbrechen stattfanden, haben sie untereinander eine Gemeinsamkeit: alle Ermordeten und Verschwundenen waren wirtschaftlich, sozial und politisch ausgegrenzt. Alle waren von Rassismus und Frauenhass betroffen, die tief in der kanadischen Gesellschaft verankert sind.
Die Gefahr, entführt, vergewaltigt und ermordet zu werden, ist unter indigenen Frauen 16 Mal so hoch wie in der europäisch-stämmigen Bevölkerung Kanadas. Dabei werden 47 Prozent aller Verbrechen gegen indigene Frauen nicht aufgeklärt. Die Gewalttaten konzentrieren sich auf die Großstädte Toronto und Vancouver.
Polizei zeigte kaum Interesse an Ermittlung der Täter
Einige der langjährigen Frauenaktivistinnen wie Amber O'Hara, Beverley Jacobs und Terri Brown, die schon vor vierzig Jahren begannen, nach den Spuren der Verschwundenen oder nach ihren Todesumständen zu suchen, berichteten gegenüber der Untersuchungskommission von ihren Erfahrungen.
Tausende von Fällen seien demnach von der Polizei ungenügend untersucht worden. Nach Berichten der Angehörigen wurden sie fälschlicherweise als Selbstmorde eingeordnet beziehungsweise als Unfälle oder als Tod infolge natürlicher Ursachen. Zudem diskriminierte die Polizei die Opfer als alkohol- oder drogenabhängig, als Prostituierte, als Opfer zweiter Klasse. Ähnlich rechtfertigend behaupteten Behörden, 60 Prozent der Morde gingen auf das Konto von nahen Bekannten oder Familienangehörigen, also Täter aus dem indigenen Umfeld.
Im Jahr 2015 forderten die Vereinten Nationen Kanada auf, die aktuelle und historische Verfolgung der kanadischen Indianer offiziell zu untersuchen. Ein Jahr nach seinem Wahlsieg gab Justin Trudeau dann den Auftrag für die Untersuchung.
Methoden des kolonialen Völkermordes
Die Untersuchung, die den "kolonialen Völkermord" in der kanadischen Geschichte dokumentiert, beleuchtet beispielsweise die "biologische Kriegsführung" um das Jahr 1700. Damals schenkten die Kolonialkräfte den indigenen Gruppen mit der Pockenkrankheit infizierte Decken.
In den Jahren um 1750 zahlte die aufstrebende Kolonie von Neuschottland Kopfgeld für die Skalps (abgezogene Kopfhaut) der Mi'kmaq-Indigenen. Die gesamte Bevölkerung der Beothuk von Neufundland wurde in den 1820er Jahren "vollständig ausgelöscht", heißt es in der Untersuchung.
Im Jahr 1870 verweigerte die Regierung den Indianern in den Prärien Nahrungsmittel, als diese in Hungersnot gerieten. Die in Reservaten festgehaltenen Indianervölker, die sich nicht mehr durch Jagd ernähren konnten und ihrer Überlebenstraditionen beraubt waren, wurden durch jahrelang unzureichende Lebensmittelrationen sehr geschwächt. Eine Tuberkuloseepidemie raffte Tausende dahin.
In den 1920er Jahren hat man ein Internats-Schulsystem geschaffen, um Indianerkinder von ihren Familien zu trennen und sie in Religion und Sprache der euro-kanadischen Gesellschaft zu indoktrinieren. Unterernährung, Schläge, sexueller Missbrauch und medizinische Zwangsexperimente – die Schulen waren der reinste Horror für die Indigenen und existierten ganze einhundert Jahre lang. Etwa 75 Prozent der indigenen Kinder und Jugendlichen lebten in diesen Einrichtungen. Das Ergebnis war vor allem eine zerstörte Identität, eine als minderwertig deklarierte Kultur der Indigenen, mit entsprechenden psychologischen Folgen.
Schwere traumatische Folgen für die Indigenen
Solche und andere Erfahrung haben schwere traumatische Konsequenzen unter den Völkern hervorgerufen, die über Generationen fortdauern. Die Untersuchung stellt nun fest, dass sie die Voraussetzungen für die Ermordung und das Verschwindenlasssen der vielen Indianerfrauen- und Mädchen geschaffen haben.
Die staatliche Statistikbehörde stellte zwischen 2011 und 2016 fest, dass die Selbstmordrate unter den Indigenen dreimal so hoch ist wie unter den nicht-indigenen Kanadiern. Unter den Inuit ist sie 6 bis 11 Mal so hoch.
Des Weiteren deckt der Bericht auf, dass es immer noch offizielle Richtlinien gibt, um indigene Kulturen und Völker in Kanada zu eliminieren.
Der Staat hat es versäumt, Frauen vor Ausbeutung und Menschenhandel zu schützen, Todesfälle in Polizeigewahrsam zu verhindern und identifizierte Mörder daran zu hindern, weiter zu morden", so ein Mitglied der Kommission.
Serienmörder unter den Augen der Polizei
Denn es stellte sich heraus, dass bereits erkannte Täter auf freiem Fuß blieben und unter den Augen von Polizei und Justiz weiterhin Frauen umbringen konnten. So der Fall des Serienmörders Robert Pickton, auf dessen Farmgelände Dutzende Skelette gefunden wurden. Er hat 49 Morde eingestanden, doch Opferfamilien lasten ihm insgesamt 70 Fälle an.
Oder der Fall von Shawn Lamb. Er wurde 2013 wegen dem Mord an zwei indigenen Frauen verurteilt. Opferfamilien schreiben ihm jedoch noch mehr Morde zu.
Kinder werden ihrer kulturellen Umgebung entrissen
Zu den Genozid-Methoden gehört auch, indigene Kinder aus ihrem Kulturkreis zu entfernen, um sie in nicht-indigenen Pflegefamilien unterzubringen. Auch zahlreiche Zwangssterilisationen an indigenen Frauen wurden durchgeführt. Die chronische Unterfinanzierung staatlicher Dienstleistungen in Gebieten mit einem erhöhten Anteil an Indianerbevölkerung verstärkte deren Erfahrung, aus ihrem eigenen Land ausgeschlossen zu sein.
Oder der immer noch gültige Zusatz zum Indianergesetz von 1924, der es den Indigenen untersagt, Rechtsanwälte im Fall von Land- und Rechtsansprüchen zu bestellen. Sie müssen dafür eine amtliche Erlaubnis vorweisen.
Qajaq Robinson, ein weiteres Mitglied der Untersuchungskommission, sagte, dass Justin Trudeau und seine Minister sofort damit beginnen könnten, Veränderungen einzuleiten. Unter anderem die staatlichen Richtlinien und Protokolle zu ändern, die Frauendiskriminierung im Indianergesetz aufzuheben, die Opfer zu entschädigen und die staatlichen Grundleistungen gegenüber Indigenen zu sichern.
Endlich Augen und Ohren öffnen
Laurie Odjick, deren Tochter Maisy als Jugendliche im September 2008 in Quebec verschwunden war, hofft, der Bericht würde "die Augen Kanadas öffnen, um endlich zu sehen und endlich zu hören, was den indigenen Frauen und Mädchen geschehen ist".
Ich weiß, dass wir als Familien es nicht zulassen werden, dass man sie vergisst. Wir müssen weiter für Gerechtigkeit kämpfen.
Der Senator Murray Sinclair, Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TCR), erklärte, der kulturelle Völkermord sei nur ein Aspekt des Verbrechens gegen die Menschlichkeit:
Die Schulen fernab der Indianergebiete und die Gewalt gegen indigene Frauen und Mädchen waren Teil dieses Gesamtkonzepts, um indigene Völker aus dem Land zu verbannen, ihnen ihre Kultur zu nehmen und sie aus ihren Gemeinden zu vertreiben.
Ein Dialog über Versöhnung sei nicht möglich, solange die Menschen nicht wüssten, worüber sie sich aussöhnen sollten. Und der Völkermord sei "ein Teil dessen, was wir verstehen müssen. Wir müssen uns darüber aussöhnen", so Sinclair.
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