Meinung

Nordhausen: Welch Aufwand, eine Stadt mit 40.000 Einwohnern "auf Linie" zu halten

Sie haben es mit vereinten Kräften geschafft, einen Sieg der AfD bei der Bürgermeisterwahl in Nordhausen zu verhindern. Und natürlich finden das die deutschen Leitmedien ganz toll. Aber dieser Sieg ist auf vielfache Weise fragwürdig.
Nordhausen: Welch Aufwand, eine Stadt mit 40.000 Einwohnern "auf Linie" zu haltenQuelle: www.globallookpress.com © Martin Schutt

Von Dagmar Henn

Der Jubel ist beinahe grenzenlos. "Die antifaschistische Mobilisierung gegen den NS-Relativierer hat geklappt", tönt es aus den Reihen der Grünen auf Twitter, ein "Aufatmen in Nordhausen" erkennt die taz, und selbst der CDU-Landeschef Mario Vogt meinte, die Nordhäuser hätten "ein wichtiges Zeichen gesetzt". Mit 55 zu 45 Prozent hielt der Ex-Grüne Kai Buchmann das Bürgermeisteramt gegen den AfD-Kandidaten Jörg Prophet.

Der Wahlkampf für die Stichwahl wurde ausgetragen, als ginge es um das Kanzleramt. Insbesondere der Leiter der nahegelegenen Gedenkstätte beim früheren KZ Mittelbau-Dora ging in die Vollen und griff Prophet als Geschichtsrevisionisten an, was dann querbeet durch die Presselandschaft übernommen wurde. Die Grundlage dafür war ein Artikel aus dem Jahr 2020, der sich auf den britischen Luftangriff auf Nordhausen Anfang April 1945 bezog.

Nun ist Prophet sicherlich ein Rechter, und den nach 1989 verordneten Antikommunismus hat er in großen Zügen genossen, wenn er in dem inkriminierten Text eine "sozialistische Autokratie" in der Bundesrepublik wittert und insbesondere im Corona-Regime  eine "Identität mit den roten Diktatoren der SED" sieht. Eigentlich würde er hervorragend in den rechten Flügel der CDU passen, wenn – ja wenn es nicht nach der bundesdeutschen Tradition tabu wäre, Kriegsverbrechen der Briten und US-Amerikaner als solche zu benennen, was man jedes Jahr erneut zum Stichwort Dresden erleben kann.

"Geschichtsrevisionismus" wird ihm vorgeworfen, weil er den US-Amerikanern in diesem Artikel spezifische Motive vorwarf, Nordhausen und Mittelbau-Dora einzunehmen: "Tage später zeigte sich dann auch in Nordhausen das wahre Gesicht der Befreier, als diese das unzerstörte Konzentrationslager Mittelbau-Dora mit der unterirdischen Rüstungsproduktion übernahmen und sich das holten, was sie scheinbar antrieb: Vorsprung durch Inbesitznahme von Technologien des Tötens, um die eigene Stellung in der Welt zu sichern."

Der Leiter der Gedenkstätte, der diese Zeilen als den schlagenden Beleg für Geschichtsrevisionismus bekannt machte, müsste eigentlich genau wissen, was damit gemeint war. Hätte Prophet statt einer Anspielung die historischen Fakten benannt, wäre diese Deutung schlicht nicht möglich gewesen. Mittelbau-Dora war nämlich die Produktionsstätte für die V2, eine der vermeintlichen Wunderwaffen. In heutige Sprache übersetzt, ging es dort um die Produktion von A4-Raketen.

Einer der Beteiligten an der Entwicklung dieser Raketen war ein gewisser Wernher von Braun, den sich die US-Truppen bekanntlich auch schnell sicherten. Die Älteren unter uns wissen, was an diesem Namen hängt. Apollo, die Mondlandung, aber eben auch die Entwicklung wiederum militärischer Raketen für die USA. Und es ist nicht allzu schwer zu erkennen, dass die Vereinigten Staaten an allem interessiert waren, was mit dieser Technologie zu tun hatte, insbesondere an den Produktionsstätten.

Es ist eher ein Zeichen, wie weit eine realistische Sicht auf die USA inzwischen in der Bundesrepublik verschwunden ist, dass der Vorwurf des "Geschichtsrevisionismus" in diesem Zusammenhang überhaupt gemacht werden konnte. Das erinnert an die gleichlautenden Vorwürfe, die etwa bei Erwähnung des Rheinwiesenlagers gemacht werden, obwohl auch dieses eine verbürgte Tatsache ist (eine historische Quelle, in der dieses Lager eine Rolle spielt und beschrieben wird, ist die Autobiografie des bayerischen Kommunisten Richard Scheringer, Freund der Familie von Hans und Sophie Scholl und mit Sicherheit niemand, der die Verbrechen der Nazis kleinreden wollte). Dass Wissenschaftler wie Wernher von Braun sofort eingesammelt und wieder oder weiter eingesetzt wurden, war zumindest in meiner Jugend noch allgemein bekannt. Worum es dabei ging, ebenfalls.

Aber zurück zur Nordhäuser Wahl. Die Frankfurter Rundschau (FR) lieferte sogar einen Ticker zu dieser Wahl, dessen Lektüre nicht uninteressant ist. Er legt nahe, dass eine genauere Untersuchung der Ergebnisse nach Wahllokalen sinnvoll wäre; schließlich gibt es nicht nur einen Stimmzuwachs für den Amtsinhaber Kai Buchmann, der die Ergebnisse des ersten Wahlgangs mehr als verdoppelt, und das bei einer Steigerung der Wahlbeteiligung um nur drei Prozent – von 56 Prozent im ersten Wahlgang auf 59 Prozent bei der Stichwahl. Nach der Berichterstattung der FR lag Prophet noch bei 31 von 42 ausgezählten Stimmkreisen gleichauf mit Buchmann.

Der nun bestätigte Bürgermeister Buchmann ist erkennbar eine Notlösung, auf die sich die übrigen Parteien einzig deshalb geeinigt haben, um den AfD-Kandidaten zu verhindern. Einzig die Grünen konnten sich durchringen, offen zu seiner Wahl aufzurufen. Denn gegen Buchmann lief schon ein Amtsenthebungsverfahren, das sogar vorübergehend zu seiner Suspendierung geführt hatte. Es war der Nordhäuser Stadtrat, der dieses Verfahren einleitete, weil Buchmann als OB mehrfach Beschlüsse des Stadtrats ignoriert hatte. In der Kommunalpolitik ist das kein alltäglicher Vorgang, eher ein Indiz darauf, dass das Verhältnis zwischen den Stadträten und diesem Bürgermeister tatsächlich völlig zerrüttet ist. Insofern ist man geneigt, den Nordhäuser Stadträten viel Vergnügen für die Zukunft zu wünschen, denn geändert hat sich Buchmann mit Sicherheit nicht.

Wenn man die Biografie der beiden Kandidaten betrachtet, kann man erkennen, dass sich – abseits von der politischen Ausschlachtung des "Geschichtsrevisionismus" – ein deutlicher kultureller Unterschied zwischen den beiden Kandidaten zeigt. Prophet ist gelernter Industriemechaniker, der über den Berufsabschluss als Meister zum Unternehmer wurde, eigentlich also klassisches CDU-Personal. Buchmann hat Betriebswirtschaft studiert, dann aber bei einem Projekt gearbeitet, das EU-Mittel vergab. Danach wechselte er in die Geschäftsführung des Südharzklinikums, einer gemeinnützigen GmbH, die dem Landkreis und der Stadt Nordhausen gehört und auch ein akademisches Lehrklinikum für die Universität Leipzig ist. Der eine steht also für traditionelle Industrie, auch noch im Maschinenbau, der andere für die Verwaltungselite einer Dienstleistungsgesellschaft, ausgestattet mit der gebündelten Arroganz, das legt das Amtsenthebungsverfahren nahe, die im Umfeld der Brüsseler Bürokratie so üblich ist.

Dieser Wahlkampf hätte sich um diese kulturellen Unterschiede drehen können. Stattdessen stürzte sich die gesammelte Bundespolitik auf diese kleine Stadt und machte daraus einen angeblichen Kampf um die bundesdeutsche Demokratie.

Nun könnte man meinen, das sei das Ende der Geschichte. Offiziell haben die Guten gewonnen, inoffiziell dürfte bei den Nordhäuser Stadträten das weinende Auge angesichts weiterer sechs Jahre Buchmann über das lachende triumphieren. Und die Bürger der Stadt Nordhausen wurden erfolgreich ihres Entscheidungsrechts über kommunale Fragen durch den bundespolitischen Druck beraubt, wobei der politische Entscheidungsspielraum derzeit ohnehin minimal sein dürfte.

Der Ablauf der Auszählung hat längst zu Befürchtungen geführt, es sei nicht mit rechten Dingen zugegangen:

Schön an diesem Tweet ist vor allem die hinzugefügte Ergänzung, die den Vorwurf der Fälschung entkräften soll. "Zuletzt mit der Auszählung fertig sind oft Stimmbezirke mit den meisten auszuzählenden Stimmen, in Nordhausen die Briefstimmbezirke. Dort hatte Prophet bereits im 1. Wahlgang geringe Anteile." Das Stichwort Briefstimmbezirk löst bei jedem, der mit Wahlverfahren vertraut ist, Alarm aus. Zur Abwehr einer Vermutung der Manipulation wird interessanterweise gerade das Argument gebraucht, das diese Befürchtungen bestärkt. Selbst wenn der gesamte Ablauf bis auf den i-Punkt korrekt war, lassen sich diese Zweifel wohl nicht mehr ausräumen; dazu war die Reaktion auf Landes- wie auf Bundesebene zu laut und zu eindeutig.

Übrigens gab es vor wenigen Tagen erst in einem anderen NATO-Land ein erstklassiges Beispiel, wie wirklicher Geschichtsrevisionismus aussieht. Das kanadische Parlament ehrte nicht nur den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij mit einer stehenden Ovation, sondern ebenfalls einen Angehörigen der SS-Division Galizien, weil der so tapfer gegen die Russen gekämpft habe. Nachdem dies auch innerhalb des Westens einigen zu Recht sauer aufstieß, gab es eine halbgare Entschuldigung durch den Sprecher dieses Parlaments und auch seitens der Oppositionsvertreter, wobei insbesondere erklärt wurde, man habe leider nicht gewusst, dass diese Kämpfer gegen die Russen außerdem auch noch Massenmörder waren; als wäre heute der Begriff "Waffen-SS" etwas absolut Unbekanntes.

Man könnte sagen, dieser Moment in Kanada verkörpert symbolisch, was die letzten Jahre mit ihrer "Solidarität mit der Ukraine" angerichtet haben. Der dort vermeintlich nicht vorhandene Nazismus breitet sich auch in den Unterstützerländern immer weiter aus.

In Nordhausen wurde damit argumentiert, die oben erwähnte Aussage des AfD-Kandidaten Prophet würde der Verantwortung nicht gerecht, die sich aus Mittelbau-Dora ergäbe; als wäre dieses Lager ein kollektives Hobby der Nordhäuser Bevölkerung gewesen und nicht ein zentrales Rüstungsprojekt des Nazireiches. In ganz Deutschland finden sich Orte, an denen größere und kleinere Lager waren; allein Dachau besaß über 300 Nebenlager. Und wie gerade das Beispiel Dachau belegt, wo es der dortige Sieg der Bayrischen Roten Armee im Jahr 1919 war, der dazu führte, dass die Nazis gerade dort ihr erstes KZ errichteten, können die Beweggründe völlig andere sein als eine spezifische Nähe der lokalen Bevölkerung zur Nazi-Ideologie.

Jens Wagner, der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, müsste das eigentlich wissen. Er hat sogar über Mittelbau-Dora promoviert. Aber Jens Wagner, dessen Aufgabe eigentlich darin bestehen müsste, die historische Wahrheit zu vertreten, ist ein politischer Auftragnehmer. So ist er seit 2017 Teil einer Expertengruppe, die eine Gedenkstätte auf dem Gelände der Colonia Dignidad in Chile konzipiert; diese deutsche evangelische Sekte diente der Pinochet-Diktatur als Folterzentrum, doch Wagners Auftrag dürfte vor allem darin bestanden haben, die Unterstützung der deutschen Bundesregierung für den Pinochet-Putsch möglichst zu übertünchen.

Der Kern des Textes, aus dem Wagner die Kampagne schmiedete, die gegen Prophet geführt wurde, lautet: Verantwortung, nicht Schuld. Was eine zutreffende Formulierung ist, denn Schuld ist die Folge eigener Entscheidungen. Kiew dabei zu unterstützen, die eigenen Soldaten zur Schlachtbank zu führen beispielsweise, erzeugt Schuld. Der SS-Mann, dem das kanadische Parlament jetzt stehend applaudierte, trägt gewiss eine Schuld, und die könnte sogar gewaltig sein. Das kanadische Parlament, das in seinem antirussischen Wahn vergessen hat, wer im zweiten Weltkrieg gegen wen kämpfte, verstößt in Bezug auf die Vergangenheit gegen seine Verantwortung und wird in Bezug auf die Gegenwart schuldig. Gleiches gilt für die deutsche Bundesregierung, die nach wie vor nach innen so tut, als sei sie der wahre Erbe des deutschen Antifaschismus, während nach außen – und zwar schon bei der Zerschlagung Jugoslawiens – das Erbe der Täter angetreten wird.

Nordhausen ist in den Strudel dieser Widersprüche geraten, und das politische Berlin wird sich noch einige Zeit daran ergötzen, einen Sieg errungen zu haben. Aber die Produktion angeblicher Nazis läuft nicht mehr rund; der Aufwand, um eine Stadt mit 40.000 Einwohnern "auf Linie" zu halten, war schon weit jenseits des rational Gerechtfertigten.

Jens Wagner wird sicher auch weiterhin zu Diensten stehen; in einem Interview mit dem Stern erklärte er erst neulich: "Vor zehn Jahren hätte sich so jemand wie Aiwanger mit derart belastenden Indizien nicht halten können." Doch wenn die öffentliche Reaktion auf die Vorwürfe gegen Aiwanger eines belegt, dann, dass es nicht mehr so einfach ist, ein Nichts zur politischen Todsünde aufzublasen.

Noch schwieriger wird das werden, wenn sich die deutsche Öffentlichkeit auch außerhalb der alternativen Medien endlich mit jenen echten Nazis befassen muss, die gehegt und gepflegt wurden, für die man ganze Städte beflaggte und die Kassen plünderte – sei es, weil die Vereinigten Staaten zum nächsten Tagesordnungspunkt China übergehen und die Wahrheit über Kiew nicht länger unterdrücken, oder sei es, weil nach einer ukrainischen Niederlage noch mehr originale Exemplare durch die deutschen Straßen ziehen. Dann könnte sich Nordhausen als ein sprichwörtlicher Pyrrhussieg erweisen.

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