Meinung

Erst Berlin, nun Moskau – Polen geht mit den Reparationsforderungen aufs Ganze

Polen hatte im letzten Jahr gegenüber Deutschland Reparationsforderungen für die Schäden im Zweiten Weltkrieg geltend gemacht. Die Neuauflage: Warschau trägt inzwischen Kriegsschäden zusammen, die es der Sowjetunion lange schon nachtrug – mit dem Ziel, nun Russland damit zu konfrontieren.
Erst Berlin, nun Moskau – Polen geht mit den Reparationsforderungen aufs GanzeQuelle: Legion-media.ru © Wirestock

Von Elem Chintsky

Am Mittwoch sprach die polnische Presseagentur PAP mit dem polnischen Staatssekretär im Außenministerium, Arkadiusz Mularczyk. Während des Gesprächs äußerte der Vize-Chefdiplomat die Absicht, eine neue Ermittlungskommission ins Leben zu rufen. Der Zweck? Eine Kalkulation der Schäden, die Polen durch die UdSSR während des Zweiten Weltkrieges erlitten hat, um diese zu einem Plädoyer für neue Reparationszahlungen an Moskau zu bündeln.

Die Forschungsarbeit dazu soll aber bereits hinter den Kulissen laufen. Laut Mularczyk sind die Experten und Spezialisten "seit Monaten bereits mit der Sammlung von Daten in Archiven und Bibliotheken" beschäftigt. Demnach findet bereits am 19. und 20. September eine Konferenz im polnischen Praszków dazu statt, in der polnische und ausländische Ermittler – unter anderem aus der Ukraine – ihre ersten Berichte zusammentragen werden. 

Mularczyks Worte bringen die gesamte polnische Staatsräson seit mindestens dem Jahr 2015 gegenüber dem Kreml auf den Punkt:

"Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die Verluste gigantisch waren, denn sie umfassten nicht nur Sachwerte, sondern auch die organisierte Plünderung von Kunstwerken und Kulturgütern, die Ausplünderung von Versicherungen und Banken und deren anschließende Ausbeutung über viele Jahrzehnte. Auch die sogenannte 'Befreiung' im Jahr 1945 war mit gigantischen Plünderungen verbunden."

Mularczyk ist auch der Ratsvorsitzende des Jan-Karski-Instituts für Kriegsverluste. Innerhalb dieses Instituts leitet Dr. habil. Konrad Wnęk die Koordination dieser Ermittlungsarbeit. Als Geschichtsprofessor der Krakauer Jagiellonen-Universität zeichnet Wnęk bereits verantwortlich für den vor einem Jahr veröffentlichten Bericht über die durch Deutschland gegen Polen verursachten Schäden im Zweiten Weltkrieg. Laut Mularczyk sei niemand imstande gewesen, Professor Wnęks Arbeit und Resultate seitdem zu widerlegen, weswegen er mit der Leitung des neuen Gesamtberichts in der Causa "Sowjetunion/Russland" beauftragt wurde. Des Weiteren unterstreicht Mularczyk die Dringlichkeit, auch Zugang zu den ukrainischen und weißrussischen Staatsarchiven zu bekommen, um den polnischen Gesamtbericht zu vervollständigen. Mit Kiew verhielte sich diese Absicht einfacher als mit Minsk, da "das weißrussische Regime unter Lukaschenko eine polenfeindliche Politik führt", sagt Mularczyk.

Zurück in die Zukunft – um ein Jahr in die Vergangenheit

Wie gerade erwähnt, erstellte die polnische Republik zunächst einen genauen Katalog der Schäden, die das nationalsozialistische Deutschland von 1939 bis 1945 der polnischen Nation zugefügt hatte. Man kalkulierte einerseits den materiellen Schaden, andererseits die systematische Vernichtung der polnischen Zivilbevölkerung durch die Deutschen und deren Besatzung. Man kam auf eine Gesamtsumme von 1,34 Billionen Euro. Mit der darauffolgenden Reparationsforderung verwarf die Warschauer Führung den damaligen eigenen Verzicht von 1953 auf weitere Kriegsentschädigungen gegenüber dem "deutschen Volk" als ungültig – obwohl schon die Jahre zuvor auch hohe Regierungsvertreter der PiS diese Position eingenommen hatten, so zum Beispiel auch der damalige polnische Außenminister Witold Waszczykowski (PiS) im Jahr 2017. Die ersten Gutachten dieser Art, die mit politischer Hilfe der PiS erarbeitet wurden, gehen zurück bis ins Jahr 2004. Die Begründung für neue Reparationen war und ist, dass an der damaligen Abmachung die sozialistische Volksrepublik Polen beteiligt war, welche aus der heutigen, durch die PiS verordneten Perspektive historischer Deutung keine legitime Repräsentation des polnischen Staates darstellte.

Dieser bilaterale, diplomatische Kanal retardierte rasch zu einem Patt zwischen Berlin und Warschau. Die Ampel-Koalition – bei allem Elan, das eigene Land in die Deindustrialisierung zu steuern – weigert sich ausgerechnet in dieser Frage, neue Haushaltsgelder über die Bundesbank oder EZB zu erschaffen, die die rund 1,34 Billionen von Warschau errechneten Euro bereitstellen würde. Auch an neuen Subventionsarten, die deutsche Steuerzahler neuerlich belasten sollten, um diesen polnischen Reparationsforderungen nachzukommen, scheint in Berlin derzeit noch niemand interessiert zu sein.

Der ehemalige polnische Ministerpräsident (2006–2007), sowie Gründer und langjährige Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, hat letztes Jahr öffentlich erklärt, dass Reparationsforderungen von der Art, wie sie von Polen neuerdings an Berlin gerichtet wurden und bisher aufrechterhalten werden, mit Moskau viel weniger Erfolg hätten. Man müsse aber "Schritt für Schritt" an die Sache herangehen – so damals Kaczyński –, da im Gegensatz zu Russland "die Frage der Reparationen von Deutschland ein schwieriges, aber umsetzbares Thema ist". Zu guter Letzt meinte Kaczyński, dass "das Thema, über das nicht gesprochen wird", diejenigen Kriegsschäden seien, die von den Deutschen während des Ersten Weltkriegs verursacht wurden. Daraus lässt sich schließen, dass die Polen unter der PiS bei Bedarf potenziell sogar Ansprüche stellen können auf Wiedergutmachung jener Schäden, die bei der Schlacht bei Tannenberg im Jahr 1410 entstanden sind: Eine kriegerische Auseinandersetzung, die die Polen damals gegen den Deutschen Orden gewonnen hatten.

Vor einem Jahr hatte der polnische Rechtswissenschaftler Władysław Czapliński argumentiert, die polnische Republik habe juristisch gesehen eine aussichtslose Position inne, um jegliche Reparationsforderungen an Berlin geltend zu machen. Nicht nur haben alle polnischen und deutschen Regierungen nach 1953 die erste Abmachung von damals immer wieder bestätigt. Auch der "2+4-Vertrag" von 1990 – der die Wiedervereinigung Deutschlands besiegelte, ohne dass das deutsche Volk sich eine neue Verfassung gab – habe endgültig die Frage über Deutschlands Kriegsschuld und Aussicht auf wiederkehrende Reparationen geschlossen. Welche neuen Forderungen Polen an Deutschland diesbezüglich auch gehabt hätte, man hätte sie vor dem "2+4-Vertrag" von 1990 erheben müssen. Czapliński sagte jedoch auch, rein juristisch gesehen gelte nicht dasselbe für mögliche Prozeduren Warschaus gegenüber Moskau. Dort gäbe es nicht dieselben rechtlichen Einschränkungen, so Professor Czapliński. Das heißt, man hofft in der Warschauer Führung im Fall Deutschlands auf "Diplomatie" und Berlins Freiwilligkeit – im Fall Russlands auf internationalen Druck, der Moskau einschüchtern und in die Knie zwingen soll.

Wenn sich also bereits die politische Führung in Berlin selbst unter einer "liberalprogressiv-grünen Ampel-Koalition" ziert und windet, um den Warschauer Wünschen auf Entschädigung nicht Folge leisten zu müssen, werden die Aussichten auf polnischen Erfolg mit einer – zum Beispiel – nationalkonservativ eingefärbten Regierung (AfD) ab Ende 2025 eher noch flüchtiger. Auch mit einer hypothetischen Regierungsbeteiligung der neuen Wagenknecht-Linken stehen die Chancen nicht besser, da man dann die Abmachung von 1953 womöglich sogar noch ernster nehmen wird, als es die jetzige proamerikanische, aus etablierten Systemparteien zusammengewürfelte Bundesregierung tut.

Ganz zu schweigen davon, wie die sich nun in der Formierung befindenden polnischen Anspruchsforderungen an die Erbin der Sowjetunion – die Russische Föderation – im Kreml aufgenommen werden. Der russische Präsident Wladimir Putin warnte bereits vor allzu einseitigem Geschichtsrevisionismus seitens der polnischen Führung und erinnerte an die "geschenkten" deutschen Gebiete, die der sozialistischen Volksrepublik Polen nach dem Zweiten Weltkrieg zukamen – und auch der gegenwärtigen Rzeczpospolita immer noch innewohnen.

Da Moskau sich ohnehin bereits dem Diktat der westlichen Wertegemeinschaft entzogen hat und sich einem multipolaren, internationalen Paradigma zuwendet, könnte Warschau durchaus vergebens auf etwaige Billionen-Zahlungen aus dem Kreml warten, die durch "internationalen Druck" erzeugt würden. Dass "internationaler Druck" in diesem Kontext attrappenhafter Droh-Semantik gleichkommt, wurde mittlerweile klar demonstriert an der generellen Wirkungslosigkeit der westlichen Sanktionen gegen Russland, die allerlei Ziele durch solchen präzedenzlosen "Druck" erreichen sollten, aber stattdessen kläglich versagten. Da wird spezifisch polnischer Druck kaum den letzten Tropfen für ein vermeintlich übervolles völkerrechtliches Fass darstellen.

Der Kreis dieses retroaktiven Revanchismus, den Polen im Moment ankurbelt, würde sich ausgesprochen zügig schließen, falls Russland plötzlich beginnen würde, akribisch zu berechnen, welchen Schaden Nazi-Deutschland in den Jahren 1941 bis 1945 der damaligen Sowjetunion zugefügt hatte. Damals wurden die deutschen Reparationszahlungen an Moskau im Jahr 1953 eingestellt – bezahlt wurden sie ohnehin nur von der DDR allein. Die damalige BRD war fein raus. Die polnische Führung sollte also nicht zu hysterisch an der Box der Pandora rütteln.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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