Meinung

Korybko: Es ist Zeit, über das "Afro-Indische Jahrhundert" zu sprechen

Eine baldige Annäherung zwischen Indien und China scheint unwahrscheinlich. Die indischen Entscheidungsträger sollten daher das "Asiatische Jahrhundert" hinter sich lassen und stattdessen das "Afro-Indische Jahrhundert" verkünden.
Korybko: Es ist Zeit, über das "Afro-Indische Jahrhundert" zu sprechenQuelle: Gettyimages.ru © ThomasFluegge

Von Andrew Korybko

Der angesehene indische Wissenschaftler C. Uday Bhaskar, amtierender Direktor der Society for Policy Studies und zuvor Leiter des Institute for Defence Studies and Analyses sowie der National Maritime Foundation, veröffentlichte in der South China Morning Post einen interessanten Artikel. Unter dem Titel "Unruhige Beziehungen zwischen China und Indien bedeuten, dass das asiatische Jahrhundert schwer fassbar bleibt" argumentiert er überzeugend, dass die anhaltenden Spannungen zwischen China und Indien die Chancen auf die Verwirklichung des "asiatischen Jahrhunderts" beeinträchtigen werden.

In der vergangenen Woche wurde die jährliche Standardkarte Chinas veröffentlicht, in der das gesamte mit Indien umstrittene Territorium beansprucht wird. Kurz darauf kursierten Berichte, wonach der chinesische Präsident Xi den G20-Gipfel am kommenden Wochenende in Delhi auslassen könnte. In einer Analyse dazu schrieb ich, dass dies eine unmittelbare Folge der weiteren Verschlechterung der indisch-chinesischen Beziehungen aufgrund dieser kürzlich bekräftigten Gebietsansprüche wäre. Die jüngsten Ereignisse untermauern die Einschätzung von Herrn Bhaskar, dass das "Asiatische Jahrhundert" nach wie vor in weiter Ferne ist.

In Anbetracht der Unwahrscheinlichkeit einer baldigen Annäherung zwischen China und Indien, geschweige denn einer politischen Lösung ihres langjährigen Grenzstreits, täten die indischen Politiker gut daran, das "Asiatische Jahrhundert" hinter sich zu lassen und stattdessen ein anderes Paradigma für dieses Jahrhundert anzustreben. Das "Afro-Indische Jahrhundert" könnte ein geeigneter Ersatz sein – und zwar aus den Gründen, die nun näher erläutert werden sollen:

Zunächst einmal würde das Festhalten am Konzept des "Asiatischen Jahrhunderts" implizieren, dass auch die Schicksale dieser zwei Länder miteinander verwoben sind. Es würde andeuten, dass die ein halbes Jahrtausend andauernde Ära westlicher Dominanz erst dann zu Ende geht, wenn China und Indien ihre Beziehungen in Ordnung bringen. An dieser Beobachtung ist zwar etwas Wahres dran, aber sie suggeriert fälschlicherweise, dass es für Indien gar keine Alternative zu einem Teilkompromiss in der Grenzfrage gibt, wenn es den globalen systemischen Übergang zur Multipolarität wirklich beschleunigen will.

In Wirklichkeit bietet das Modell der Tripolarität, das hier vor einem halben Jahr vorgestellt wurde, einen plausiblen Ersatzplan für den Fall, dass sich Indien weiterhin unwohl dabei fühlt, sich auf einen territorialen Kompromiss mit China einzulassen. Anstatt einer Annäherung an China den Vorzug zu geben, die möglicherweise mit der formellen Abtretung eines Teils der von Indien beanspruchten Gebiete einhergeht, könnte Indien diesen Streit auf Eis legen und sich darauf konzentrieren, den Aufstieg des globalen Südens als dritten Einflusspol neben der Goldenen Milliarde des Westens unter Führung der USA sowie der chinesisch-russischen Entente anzuführen.

Genauso wie Indien zwischen den oben genannten De-facto-Blöcken ein Multi-Bündnis eingeht, könnte es auch andere Entwicklungsländer dazu inspirieren, seinem Beispiel zu folgen, und sie bei der Optimierung dieser Politik zu beraten. Wenn dies über die neu geschaffene Plattform Stimme des Globalen Südens (SDGS) koordiniert wird, die in der Praxis als neue Bewegung der Blockfreien Staaten ("Neo-NAM") fungiert, könnte Indien den Prozess der Bipolarität in Schach halten, indem es die Zweiteilung der internationalen Beziehungen zwischen der Goldenen Milliarde und der Entente verhindert.

Damit dies gelingen kann, muss sich Indien stärker in Afrika engagieren. Es kann realistischerweise nicht mit den USA und China bei den Investitionen konkurrieren, aber deshalb sollte es sich stattdessen auf den Bereich der Ideen und der Strategie konzentrieren, ergo auf den Vorschlag, die Vision des "Afro-Indischen Jahrhunderts" als sein nächstes großes außenpolitisches Konzept einzuführen. Die Länder des "Schwarzen Kontinents" befinden sich in einer ähnlichen strukturellen Position wie Indien im Neuen Kalten Krieg zwischen der Goldenen Milliarde und der Entente über die Richtung des globalen Systemwechsels.

Mit wenigen Ausnahmen wollen sie sich nicht auf eine Seite schlagen und ziehen es stattdessen vor, ihre strategische Autonomie zu maximieren, indem sie sich nach dem erfolgreichen Beispiel Indiens mehrseitig ausrichten, um jeweils von beiden De-facto-Blöcken zu profitieren. Im Alleingang ist dies nur schwer möglich, da jedes von ihnen in jeder Hinsicht von den Führern der USA und Chinas in den Schatten gestellt wird. Aber daher ist es viel praktikabler, wenn das mit anderen Entwicklungsländern über die SDGS koordiniert wird.

Indien ist in den Bereichen Ideen und Strategie attraktiver als beide Pole, da es die meisten sozioökonomischen Herausforderungen wie Afrika gleichermaßen teilt. Außerdem hat sich gezeigt, dass eine Neutralität im Neuen Kalten Krieg tatsächlich möglich ist. Darüber hinaus haben weder die Goldene Milliarde noch die Entente eine Zukunftsvision der Weltordnung, die diesen Kontinent in das Zentrum künftiger globaler Prozesse stellt. Indien könnte daher einen unschätzbaren Vorteil an Soft Power über die Länder erlangen, wenn es als Erstes von einem "Afro-Indischen-Jahrhundert" spricht.

Dies wäre auch gar kein hohler Slogan, da er durch wirtschaftliche und geografische Tatsachen gestützt wird. Afrika als Ganzes erlebt einen astronomischen wirtschaftlichen Aufschwung – genauso wie Indien –, und beide liegen geografisch im Randbereich des Indischen Ozeans [gemäß dem sogenannten Rimland-Konzept]. Es ergibt also perfekten Sinn, von einem "Afro-Indischen-Jahrhundert" zu sprechen, da genau diese Region in den nächsten acht Jahrzehnten das schnellste Wachstum erfahren wird – mit all dem, was das für die sich entwickelnde Weltordnung bedeutet.

Das Paradigma der "regelbasierten Ordnung" der USA ist westlich zentriert und wird von den meisten afrikanischen Ländern als veraltet betrachtet, während Chinas "Gemeinschaft des gemeinsamen Schicksals" auf eine chinesisch zentrierte Weltordnung hinweist, in der letztendlich alle Handelsrouten zur Volksrepublik China über die "Belt and Road Initiative" der Neuen Seidenstraße führen. Diese aber stellt nicht Afrika in das Zentrum globaler Prozesse, sondern relegiert den Kontinent entweder an den Rand oder betrachtet es ihn eine von mehreren gleichberechtigten Regionen.

Im Gegensatz dazu feiert das Paradigma eines "Afro-Indischen-Jahrhunderts" die führende Rolle Afrikas in der sich künftig entwickelnden Weltordnung und bietet aus beider Perspektive die positivste Vision für die Zukunft. Afrika und Indien sind echte Regionen des Globalen Südens, deren umfassende Zusammenarbeit als gleichberechtigte Partner eine wahrhaftige Süd-Süd-Integration fördert, die darauf abzielt, einen dritten Pol des Einflusses zur Ausbalancierung der internationalen Beziehungen zu schaffen, anstatt den Aufstieg eines der beiden Akteure des Neuen Kalten Krieges über ihre entsprechenden Paradigmen zu fördern.

Dies bedeutet keineswegs, dass Afrika seine gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit mit der "Goldenen Milliarde" oder der "Entente" aufgeben muss. Es bedeutet lediglich, dass die Priorisierung strategischer Beziehungen zu Indien dazu beitragen wird, eine potenziell zu starke Abhängigkeit von einem der beiden Pole zu verhindern. Afrika und Indien befinden sich in ähnlichen strukturellen Positionen im Hinblick auf den globalen systemischen Übergang. Und beide würden verlieren, wenn der Neue Kalte Krieg stärker von der systemischen Rivalität zwischen China und den USA geprägt wird und zu einer Zweiteilung der internationalen Beziehungen führt.

Indien hat eine einzigartige Chance, die mehr als eine Milliarde Herzen und Köpfe in Afrika anzusprechen, indem es das "Afro-Indische-Jahrhundert" als sein nächstes großes außenpolitisches Konzept einführt, vielleicht schon auf dem bevorstehenden G20-Gipfel am nächsten Wochenende, da die Afrikanische Union als Gast eingeladen wurde. Hoch angesehene Experten wie Herr Bhaskar können eine wichtige Rolle dabei spielen, diese Vision über ihre Netzwerke zu artikulieren, zu popularisieren und weiterzuentwickeln, um sie als glaubwürdige Alternative zum zunehmend unwahrscheinlichen "Asiatischen Jahrhundert" zu etablieren.

Übersetzt aus dem Englischen.

Mehr zum Thema - Die BRICS verändern die Welt

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.