Meinung

Niger-Krise: Algeriens geostrategische Rolle bei einem möglichen Stellvertreterkrieg in Afrika

Sicherheitspolitische und ideologische Interessen sind der Grund, warum der algerische Generalstabschef nach Moskau geflogen ist. Sein Land wollte sich mit seinem strategischen Partner Russland abstimmen, um auf die regionale Krise sowie den größeren Krieg, der bald ausbrechen könnte, vorbereitet reagieren zu können.
Niger-Krise: Algeriens geostrategische Rolle bei einem möglichen Stellvertreterkrieg in Afrika

Von Andrew Korybko

Westafrika bereitet sich auf einen regionalen Krieg vor, weil es in zwei klar definierte Blöcke gespalten ist hinsichtlich der Frage, ob man nach dem potenziell bahnbrechenden patriotischen Putsch der vergangenen Woche nach Niger einmarschieren oder dieses Land verteidigen sollte. Die vorangegangene Analyse erklärt die sich rasch entwickelnde militärisch-strategische Dynamik ausführlicher. Sie lässt sich so zusammenfassen, dass die Voraussetzungen für ein nächstes Stellvertreterschlachtfeld im Neuen Kalten Krieg gegeben zu sein scheinen.

Die NATO unterstützt eine von Nigeria angeführte Invasion der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) zur Wiedereinsetzung des gestürzten nigrischen Staatsoberhaupts, Russland dagegen unterstützt Burkina Faso und Mali, die de facto zu einer Föderation zusammengeschlossen sind und gemeinsam angekündigt haben, dass jeder Angriff auf diesen Nachbarstaat von beiden als Kriegserklärung gegen sie selbst angesehen wird. Beide Staaten kooperieren trilateral mit Guinea, das ebenfalls unter Militärherrschaft steht und sich derzeit mit seinem politischen Gewicht hinter die nigrische Militärregierung stellt, während es noch unklar ist, ob es Niger auch militärisch verteidigen wird.

Der Interimspräsident der regionalen Militärmacht Tschad reiste zuvor in die nigrische Hauptstadt Niamey, um einen Kompromiss auszuhandeln, der einen Krieg abwenden könnte. Das scheint jedoch erfolglos gewesen zu sein. Auch sein Land hat sich derzeit noch nicht dazu verpflichtet, eine der beiden Seiten in diesem potenziellen Konflikt zu unterstützen. Dies versetzt den Tschad in die Rolle als Königsmacher, weil dessen Entscheidung, ob und wann er eingreift, das Ergebnis eines Konflikts maßgeblich beeinflussen könnte.

Mitten in diesen rasanten Entwicklungen bestätigte in Russland die internationale Nachrichtenagentur TASS am Dienstag, dass der algerische Generalstabschef einen Tag zuvor in Moskau eingetroffen sei, um sich mit dem Verteidigungsminister Russlands zu treffen. TASS fügte noch hinzu, dass der algerische Präsident erst im Juni Sankt Petersburg besucht hatte, um dort am Internationalen Wirtschaftsforum (SPIEF) teilzunehmen, wobei er sich auch mit dem russischen Präsidenten Putin traf, um ein Abkommen über eine verstärkte strategische Partnerschaft abzuschließen. Der algerische Premierminister hingegen war in der vergangenen Woche anlässlich des zweiten Russland-Afrika-Gipfels dort zu Besuch.

Erwähnenswert ist, dass Russland seit Jahrzehnten Algeriens wichtigster Militärpartner ist und diese Beziehung auch stabil blieb, obwohl Moskau bis vor wenigen Jahren den größten Teil Afrikas vernachlässigt hat. Das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) bestätigte in seinem Frühjahrsbericht "Trends In International Arms Transfers", dass satte 73 Prozent der algerischen Militärimporte von 2018 bis 2022 aus Russland stammten, was von einer dauerhaften Stabilität der militärischen Beziehungen beider Länder zeugt.

Dementsprechend verfügt Algerien über eines der größten, am besten ausgerüsteten und modernsten Militärkontingente in ganz Afrika und gilt daher zu Recht als eines der mächtigsten Länder des Kontinents. Aus diesem Grund ist der jüngste Besuch seines Generalstabschefs in Russland im aktuellen regionalen Kontext keine Nebensächlichkeit, da er darauf hindeutet, dass Algerien beabsichtigt, sich mit Russland über einen drohenden größeren Konflikt abzustimmen, der nach Ablauf des Ultimatums der ECOWAS am kommenden Sonntag ausbrechen könnte. Das Ultimatum verlangt, das gestürzte Staatsoberhaupt von Niger wieder einzusetzen.

Beide, sowohl Algerien als auch Russland, verurteilten Ende letzter Woche den Putsch in Niamey und verbreiteten diese Stellungnahmen noch vor jenem Ultimatum der ECOWAS, das umgehend von Frankreich und den USA unterstützt wurde, die beide zugleich auch Truppen in diesem Land stationiert haben. In der bereits erwähnten gemeinsamen Erklärung von Burkina Faso und Mali wurde vor allem davor gewarnt, dass bei einer Invasion in Niger die Gefahr einer Wiederholung des Szenarios in Libyen besteht, wodurch die gesamte Region destabilisiert würde und sich damit die terroristische Bedrohung für alle weiter verschärft.

Dies ist eine zutreffende Einschätzung, die es rechtfertigt, dass Russland und Algerien zusammenarbeiten, um dieses Worst-Case-Szenario abzuwenden und ihre Reaktion darauf zu koordinieren, falls dieser Konflikt unvermeidlich wird. Das erklärt auch, warum unmittelbar nach dem algerischen Premierminister auch noch der Generalstabschef beschlossen hatte, Russland zu besuchen. Der Grund für seinen Besuch bestand eindeutig darin, die geplante und von der NATO unterstützte nigerianische Invasion nach Niger zu erörtern. Niger grenzt schließlich zufällig auch an Algerien.

Es ist zu vermuten, dass Algerien aufgrund seiner Geographie und seiner militärischen Stärke eine wichtige Rolle spielen wird, wenn Westafrika in einen Krieg versinkt. Zumindest könnte Algerien französischen Kampfflugzeugen das Überfliegen seines Luftraums verweigern und so Paris das Risiko aufzwingen, dass seine Flugzeuge möglicherweise beschossen werden, sollten sie gegen dieses Verbot verstoßen oder eine andere Route nach Niger über Libyen oder sonst wo zu suchen. Der Punkt ist, dass Algerien Frankreichs Militärlogistik in einem solchen Konflikt erheblich erschweren kann.

Darüber hinaus könnte dieser nordafrikanische Staat Russland das Durchqueren seines Luftraums gestatten, um die De-facto-Föderation Burkina Faso und Mali zuverlässig mit Waffen, Nahrungsmitteln und weiteren vitalen Gütern zu versorgen. Vorausgesetzt natürlich, dass dies die NATO nicht durch gefährliche und riskante Machenschaften über dem Mittelmeerraum behindert.

In gewisser Weise wäre dies vergleichbar mit der Intervention der ehemaligen Sowjetunion zur Unterstützung Äthiopiens während des Ogaden-Krieges, als es von Somalia überfallen wurde, obwohl es natürlich aktuell wesentliche Unterschiede gibt.

Algerien könnte auch eine direkte Rolle spielen, obwohl es nicht als selbstverständlich angesehen werden kann, dass sich seine Staatsführung damit wohlfühlen wird, da sie befürchten muss, dass jeder bedeutende Einsatz Algeriens in Richtung oder in Niger vom langjährigen marokkanischen Erzfeind ausgenutzt werden könnte. Wenn sich Algerien jedoch dazu entschließen sollte, seine Streitkräfte – einschließlich der Luftverteidigungssysteme – näher zu Niger zu verlegen, könnte dies Frankreich und Nigeria möglicherweise abschrecken. Sollten die beiden dennoch weiterhin Niger angreifen, könnte Algerien zu dessen Unterstützung intervenieren.

Die gemeinsame Erklärung von Burkina Faso und Mali, in der vor einer Wiederholung des libyschen Szenarios gewarnt wurde, löste in Algerien ernste Besorgnis aus, da das Land während des sogenannten "Schwarzen Jahrzehnts" von 1991 bis 2002 gegen den Terrorismus ankämpfen musste, ganz zu schweigen von der jüngeren Zeit seit dem NATO-Krieg gegen Libyen, wenn auch in geringerem Ausmaß. Es würde daher den objektiven nationalen Interessen Algeriens dienen, die militärische Logistik Frankreichs zumindest zu erschweren, selbst wenn es sich letztendlich dazu entschließt, sich nicht direkt in den Konflikt einzumischen, wie es Burkina Faso und Mali tun werden.

Darüber hinaus wissen viele vielleicht nicht, dass Algerien trotz der radikalen Veränderungen in der Weltordnung seit seiner Unabhängigkeit über Jahrzehnte hinweg konsequent eine revolutionäre Ideologie vertreten hat. Dies erklärt, warum das Land seine Beziehungen zu Russland trotz des schwierigen Jahrzehnts nach der Auflösung der UdSSR aufrechterhielt und auch im vergangenen Jahrzehnt die Beziehungen zu Syrien nicht abbrach, obwohl der Rest der Arabischen Liga dies tat. Die algerische Führung hat daher auch ein ideologisches Interesse daran, eine imperialistische Invasion in Niger zu erschweren.

Zusammenfassend sind diese sicherheitspolitischen und ideologischen Interessen der Grund dafür, warum der algerische Generalstabschef gerade in Moskau war. Sein Land wollte sich mit seinem strategischen Partner Russland über diese regionale Krise abstimmen, um auf die regionale Krise sowie den größeren Krieg, der bald ausbrechen könnte, vorbereitet reagieren zu können. Algeriens Rolle ist zwar nicht so wichtig wie die von Nigeria bei einer von der NATO unterstützten Invasion der ECOWAS nach Niger oder wie jene  des Tschad als möglicher Königsmacher, aber dennoch ist Algeriens Rolle immer noch ziemlich bedeutend und sollte nicht ignoriert oder heruntergespielt werden.

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Übersetzt aus dem Englischen

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.

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