Meinung

Angela Merkels politisches Vermächtnis muss neu bewertet werden

Für diejenigen, die nur beiläufig die Ereignisse in den internationalen Beziehungen verfolgen, ist es schwer zu glauben, dass Angela Merkel jahrelang von den USA gesteuert wurde, während sie gleichzeitig mit Präsident Putin freundschaftlich verbunden war und sogar mit ihm gemeinsam den Bau der Nord-Stream-Pipelines vorantrieb.
Angela Merkels politisches Vermächtnis muss neu bewertet werdenQuelle: Legion-media.ru © SplashNews.com

Von Andrew Korybko

Der Vorsitzende des russischen nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, erwähnte Anfang vergangener Woche in einem Interview, dass "das Weiße Haus die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel jahrelang gesteuert hat". Diese Bemerkung steht im Gegensatz zu den bisherigen Wahrnehmungen in der Gemeinschaft der alternativen Medien, wo gerne darüber spekuliert wurde, ob Merkel eine multipolare Partnerschaft mit Russland und China anstrebe. Diejenigen, die damals solche Ansichten vertraten, sollten jetzt, im Licht der jüngsten Schlussfolgerung von Patruschew, Merkels politisches Vermächtnis neu bewerten.

Zwar schien Präsident Putin selbst Merkel so wahrzunehmen, wie die Analysten aus den alternativen Medien es taten. Dies erklärte umso mehr seine Fassungslosigkeit, nachdem Merkel in einem Interview mit der Zeit zugegeben hatte, nie ein Interesse an der Umsetzung der Minsker Abkommen gehabt zu haben, und diese in Wahrheit dazu dienten, für Kiew Zeit zu gewinnen, um aufzurüsten und die ukrainische Armee auszubilden. Was die früheren Wahrnehmungen in den alternativen Medien in Bezug auf Merkel für viele so verlockend machte, war ihre langjährige freundschaftliche Verbundenheit mit dem russischen Präsidenten, was sich im Projekt der Nord-Stream-Pipelines greifbar manifestierte.

Russland hat offensichtlich alles in Bezug auf Merkel neu bewertet, wie die Schlussfolgerung von Patruschew zeigt. Aber genau das macht ihre Verbundenheit mit Präsident Putin und ihre früheren Pipeline-Erfolge umso faszinierender. Schließlich ist es schwer zu glauben, dass die USA sowohl Merkel als auch Putin hinter den Kulissen heimlich unterstützten und gleichzeitig öffentlich kritisiert haben. Daher die Verwirrung.

Die Grenzen des Einflusses der USA auf ihre Vasallen

Was Beobachter daher benötigen, um Merkels Taktik besser zu verstehen, ist eine überzeugende Erklärung, die diese scheinbare Widersprüchlichkeit verbindet. Für diejenigen, die nur beiläufig die Ereignisse in den internationalen Beziehungen verfolgen, ist es schwer zu glauben, dass Angela Merkel jahrelang von den USA gesteuert wurde, während sie gleichzeitig mit Präsident Putin freundschaftlich verbunden war und sogar mit ihm gemeinsam den Bau der Nord-Stream-Pipelines vorantrieb.

Die USA üben sehr selten die volle Kontrolle über ihre Vasallen aus, auch nicht über Selenskij. Laut einem jüngsten Bericht von Politico mit dem Titel "Kleine Risse: Die Einheit zwischen den USA und der Ukraine bricht langsam auseinander" geht es um zunehmende Differenzen in mehreren Schlüsselfragen. Die alternativen Medien und ihre Antagonisten bei den Mainstream-Medien, neigen dazu, die Beziehungen zwischen Staaten und Staatsoberhäuptern zu stark zu vereinfachen. Zum Beispiel behaupten die alternativen Medien, dass die USA Selenskij völlig unter Kontrolle hätten. Während die Mainstream-Medien den weißrussischen Präsidenten Lukaschenko als von Russland kontrolliert betrachteten.

Die Realität ist jedoch, dass sowohl Selenskij als auch Lukaschenko, trotz der nahezu vollständigen Angleichung der eigenen Ansichten an ihre jeweiligen größeren Partner, immer noch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit behalten haben. Aus Gründen der "narrativen und politischen Bequemlichkeit", ist es für die alternativen und die Mainstream-Medien jedoch viel einfacher, die Beziehungen zwischen Staaten und Staatsoberhäuptern stark zu simplifizieren, anstatt die tieferen Nuancen zu ergründen – was die große Mehrheit ihres jeweiligen Publikums auch tut, das die Ereignisse nur beiläufig verfolgt und in der Regel auch nichts Genaueres wissen möchte.

Präsident Putins Kritik an Wunschdenken-Analysen

Nachdem dieser entscheidende Mangel in den Informationsangeboten zu diesem Thema beleuchtet wurde, sollte man versuchen zu verstehen, auf welche Weise Merkel von den USA gesteuert wurde, während sie gleichzeitig die Beziehungen zu Russland im Energiesektor ausbaute. Die Kontrolle über Merkel war offensichtlich nicht mächtig genug, um die Beziehungen der Bundesrepublik zu Russland nach den Wünschen der USA zu beeinflussen, was erklärt, warum diese von den USA gesteuerte Regierungschefin auch unter diesem enormen Druck beachtliche Erfolge erzielen konnte.

Trotz Merkels pragmatischem, von wirtschaftlichen Aspekten getriebenem Ansatz in Bezug auf die Beziehungen zu Russland, die durch das objektive nationale Interesse Deutschlands motiviert waren, günstige Ressourcen zu beziehen, wäre es ein Fehler, Merkel als eine Verfechterin der Multipolarität zu bezeichnen. Die Spekulationen in den alternativen Medien, dass sie insgeheim eine bahnbrechende trilaterale Partnerschaft mit Russland und China anstreben würde, waren nichts als Wunschdenken, wie Präsident Putin im vergangenen Sommer festgestellt hat.

Damals sagte er gegenüber Mitarbeitern und Veteranen des Auslandsgeheimdienstes, dass "die Nachrichtendienste der strategischen Analyse internationaler Prozesse Priorität einräumen sollten. Und diese Analyse muss realistisch und objektiv sein und sich auf verifizierte Informationen und eine Vielzahl zuverlässiger Quellen stützen. Man sollte sich nicht einem Wunschdenken hingeben."

Die Relevanz dieser Bemerkung besteht darin, dass einige positive öffentliche Schritte nicht immer auf einen größeren geheimen Plan hindeuten.

Russlands strategisches Kalkül während Merkels Amtszeit

Präsident Putin glaubte nie, dass Merkel eine trilaterale Partnerschaft mit seinem Land und China anstrebte, was Eurasien von der unipolaren Hegemonie der USA befreit hätte. Aber er wurde definitiv von Merkel bei den Minsker Abkommen getäuscht. Er wusste, dass der Unabhängigkeit der Bundeskanzlerin durch den Einfluss der USA Grenzen gesetzt waren, aber Putin glaubte aufrichtig, dass sie stark genug sei, den Frieden in der Ukraine zu forcieren, so wie sie stark genug war, den Bau der beiden Nord-Streams durchzusetzen.

Die Annahmen des russischen Staatschefs in Bezug auf die Rolle seines Landes bei der Ausweitung des transeurasischen Handels, waren, dass sich Deutschland für die Umsetzung der Minsker Abkommen starkmachen würde, um die daraus resultierenden wirtschaftlichen Opportunitäten zu erschließen, von denen vor allem Deutschland selbst profitiert hätte. Dies war theoretisch ebenso sinnvoll wie Putins frühere Einschätzung bezüglich Deutschlands Interesse am Bau der Pipelines – trotz des immensen Drucks aus den USA, dieses Projekt zu stoppen.

Präsident Putin kann daher nicht vorgeworfen werden, erwartet zu haben, dass Merkel sich aufrichtig für die Minsker Abkommen einsetzen wird, da Präzedenzfälle gezeigt haben, dass es einen Grund für ihn gab zu glauben, dass Merkel stark genug sei, um sich den USA auch in dieser Frage zu widersetzen. Tatsächlich wäre dies den USA möglicherweise nicht einmal ein Dorn im Auge gewesen, zumindest nicht während Trumps Amtszeit, da dieser offen davon sprach, die Differenzen mit Russland beseitigen zu wollen, damit sich die USA ausschließlich auf die "Eindämmung Chinas" konzentrieren könnten, anstatt sich an zwei geostrategischen Brennpunkten zu verzetteln.

Merkels Duplizität gegenüber den Präsidenten Putin und Trump

Trump konnte dieses große strategische Ziel aufgrund des beispiellosen Widerstands der liberalen Globalisten in den Militär-, Geheimdienst- und diplomatischen Bürokratien seines Landes –  im "tiefen Staat" – nicht erreichen. Diese waren stattdessen davon besessen, "Russland einzudämmen". Präsident Putin war sich dieser Faktoren bewusst, die jede Handlungsfreiheit seines amerikanischen Amtskollegen in dieser Hinsicht einschränkten, aber er schien nicht bemerkt zu haben, dass diese schädlichen Protagonisten des "tiefen Staates" ihre Klauen bereits tief in Merkel getrieben hatten.

Diese Beobachtung, die erst im Nachhinein gemacht wurde, erklärt, warum Merkel später zugab, dass sie nie ein Interesse an der Umsetzung der Minsker Abkommen hatte, was bedeutet, dass sie auch Trump in geheimer Absprache mit seinen Gegnern hinters Licht geführt hatte. Auch wenn Merkel von äußerem Einfluss befreit gewesen wäre und letztlich dazu beigetragen hätte, den ukrainischen Bürgerkrieg zu beenden, ist es trotzdem unrealistisch sich vorzustellen, dass Trump, als vehementer antichinesischer Politiker, nicht alle Register gezogen hätte, um Merkel daran zu hindern, sich mit China zu verbünden.

Die USA üben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen starken Einfluss auf Deutschland aus, obwohl sie nie allmächtig waren, wie Merkels freundschaftliche Verbundenheit mit Präsident Putin und der erfolgreiche Bau der Nord-Stream-Pipelines beweisen. Russland erkannte dies, irrte jedoch in der Annahme, dass die USA der "Eindämmung" Chinas" Priorität einräumen würden, weshalb Moskau erwartete, dass Merkel Kiew zur Umsetzung der Minsker Abkommen drängen könnte, was im Ergebnis den deutschen Interessen gedient hätte.

Das Szenario einer deutsch-russisch-chinesischen Allianz zur Befreiung Eurasiens von der unipolaren Dominanz der USA war immer nur ein Wunschdenken. Merkel hätte bestenfalls erreichen können, dass Deutschland von den Beziehungen zu beiden Staaten hätte profitieren können, aber sie wäre niemals gegen die USA vorgegangen.

Übersetzt aus dem Englischen

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich spezialisiert hat auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung.

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