Meinung

Von der Leyens Angabe zu Kiews Verlusten weder Versehen noch Versprecher – sondern ein Signal

Die Führung der Ukraine ist wutentbrannt wegen der Angabe von der Leyens zu ukrainischen Kriegsverlusten. Doch Kiew sollte besser genau hinhören, denn damit wird nicht nur das westliche Publikum an diese Größenordnungen herangeführt werden. Sondern es könnte ein Signal sein.

Von Geworg Mirsajan

Zwischen der Ukraine und Europa entbrannte ein weiterer Skandal – und Kiew sieht die Schuld nicht bei sich. EU-Kommissionsleiterin Ursula von der Leyen sagte etwas, das sie nach Meinung der Ukraine nicht sagen darf.

Kein Versehen, kein Versprecher

In einer ihrer Reden erklärte Ursula von der Leyen, in der Ukraine seien seit Februar 2022 über 20.000 Zivilisten und über 100.000 Offiziere ums Leben gekommen. Die Medien vieler Länder – zum Beispiel auch die russischen – übersetzten ihre Worte aus dem Englischen falsch: "100.000 Militärangehörige".

Im Original war jedoch gerade von Offizieren die Rede, und zwar von toten Offizieren. (Die Faustregel, im Englischen werde jeder Uniformierte "officer" genannt, gilt ausgerechnet für das Militär nicht. Anm. d. Red.)

Einfacher ausgedrückt: Dann muss doch, an diversen Statistiken gemessen, die Gesamtzahl der Mannverluste der ukrainischen Armee weit über 200.000 an Toten betragen – vielleicht sogar über 300.000 Tote.

Das ukrainische Präsidialamt war mit solcher Bezifferung unzufrieden und erklärte seinerseits, dass exakte Daten zu Verlusten der Ukraine ausschließlich von Wladimir Selenskij zu verlautbaren seien – und selbst dies erst, wenn der Zeitpunkt passe. Unzufrieden waren anscheinend auch die USA: Denn dort gelten derartige Zahlen als absolute Obergrenze für alle Analysen und Prognosen zu Kiews Frontverlusten und werden meist lediglich von den radikalsten Experten veröffentlicht – und dann kommt da einfach so die Leiterin der EU-Kommission daher und gibt sie zum Besten.

Wie man weiß, wurde dieser etwa elf Sekunden lange Abschnitt der Rede von der Leyens ausgeschnitten, das zuerst veröffentlichte Video gelöscht und in der geschnittenen Version neu veröffentlicht. Doch das liebe Internet vergisst nichts. Darum fragen sich viele Experten: Was war das überhaupt? Und an wen war es gerichtet?

Klar gibt es den offiziellen Standpunkt – und zu dieser Sache lautet er, von der Leyen sei ein Fehler unterlaufen, und gemeint habe sie aber 100.000 unwiederbringliche Verluste des ukrainischen Militärs überhaupt – also unter allen Angehörigen, Soldaten und Offizieren, und neben Toten ausdrücklich noch Verwundete, die nicht wieder zum Frontdienst zurückkehren können.

Doch eine solche Version zu glauben, fällt schwer: Denn solche Texte – und von der Leyen las ihre Rede vor – werden gut im Voraus geschrieben und zwecks Absprache durch eine ganze Reihe von Instanzen gejagt.

Von ukrainischen Kriegsverbrechen ablenken, Mitleid mit Kiew erregen

Laut einer weiteren Version wollte die Kommissionsvorsitzende mit ihren Worten der Welt – und vor allem der europäischen Öffentlichkeit – das Ausmaß der Leiden der Ukrainer demonstrieren und so das Mitgefühl mit Kiew verstärken. Und hier – ja, hier besteht eine gewisse Logik. Angesichts der Wirtschaftskrise, die in der EU gerade entbrennt, und des dann doch nicht ganz korrekten Verhaltens ukrainischer Flüchtlinge in Europa wächst (und zwar schon länger) die Unzufriedenheit mit weiteren Ausgaben für die Ukraine. Auch die sich zunehmend verbreitenden Beweise für ukrainische Kriegsverbrechen, einschließlich der jüngsten Erschießungen von Kriegsgefangenen, tun ihr Übriges dazu.

Überhaupt mehren sich diese Beweise in letzter Zeit ganz besonders, und einfach ignorieren kann der Westen sie nicht mehr. Doch wenn seine Reaktion nicht ausbleiben darf, dann muss er kommentieren. Und wenn irgendwelche Schritte der ukrainischen Seite theoretisch noch als Selbstschutz abgetan werden könnten, so lassen sich auf dieselbe Weise weder Folter noch Erschießungen von Kriegsgefangenen nicht erklären – und lade man dazu auch den absoluten Oberjesuiten in seine PR-Mannschaft ein.

Kiew die Unzufriedenheit zeigen

Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass von der Leyen zu ihrer Aussage von einem Wunsch bewogen wurde, die Unzufriedenheit Europas zum Ausdruck zu bringen. Die Unzufriedenheit mit der Flegelei und dem Rowdytum der Vertreter des Selenskij-Regimes, das militärische und wirtschaftliche Hilfe von Europa nicht einmal mehr erbittet, sondern nunmehr lauthals fordert – und mit dem Bestreben Kiews, Europa nun auch unmittelbar in seinen militärischen Konflikt mit Russland hineinzuziehen. Auch mittels einer Provokation – etwa in der Form des Beschusses polnischen Staatsgebietes mit angeblich russischen Raketen.

Falls diese Unzufriedenheit ein gewisses Maß tatsächlich überschritten hat, so waren die Worte der EU-Kommissionsvorsitzenden ein Signal über die Unannehmbarkeit derartigen Verhaltens. Ein Signal in einer Reihe von vielen, das man in Kiew gefälligst zu registrieren hat – das man dort aber höchstwahrscheinlich wieder einmal nicht registrieren wird. Das aber bedeutet: Von Europa und von der Leyen persönlich werden weitere, härtere und verständlichere Signale erforderlich werden, die Europas totalen Überdruss mit dem Verhalten des Kiewer Regimes ausdrücken sollen. Doch ob von der Leyen bereit ist, sie nicht nur zu senden, sondern sie im Nachhinein auch nicht wieder aus ihren Vorträgen zu entfernen, ist eine große Frage.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Invoice Media unter dem Titel "Geworg Mirsajan: Warum Ursula von der Leyen die Ukraine beleydigte".

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vereinigte Staaten. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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