Meinung

Der westliche Scheinriese und die Sanktionen

Monatelang und sorgfältig seien die Sanktionen gegen Russland vorbereitet worden, erklärten Wirtschaftsminister Robert Habeck und selbst Bundeskanzler Olaf Scholz. Wie kann es dann sein, dass sich der Westen derart selbst ein Bein gestellt hat?
Der westliche Scheinriese und die SanktionenQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people

von Dagmar Henn

Je mehr Details über die Folgen der Sanktionen für die westliche Ökonomie bekannt werden, desto stärker zweifelt man am Verstand derjenigen, die diese Pakete geschnürt haben. Noch schlimmer werden diese Zweifel, wenn man bedenkt, dass die ganze Abfolge der Ereignisse, einschließlich der russischen Militäraktion, so insbesondere von den USA beabsichtigt war, also hier niemand in irgendeiner Form überrascht wurde. Im Gegenteil, im Verlauf der letzten acht Jahre wurde immer wieder versucht, eine russische Reaktion zu erzwingen, um einen Anlass für Sanktionen und die Art von halb verdecktem Krieg zu finden, den die NATO jetzt führt.

Den Irrsinn, den diese immerhin politisch getroffenen Entscheidungen ausgelöst haben, illustriert am besten eine kleine Anekdote, für deren Wahrheitsgehalt ich mich nicht verbürgen kann, die aber immerhin erklären könnte, warum größere Zahlen türkischer Lkw auf bayerischen Straßen unterwegs waren: BMW soll Gerüchten zufolge eine größere Menge Waschmaschinen aufgekauft haben. Waschmaschinen, die in Westeuropa verkauft werden, werden inzwischen überwiegend in der Türkei hergestellt.

Was will ein Automobilhersteller mit Waschmaschinen? Sie auseinandernehmen, um an die Chips zu kommen ... So absurd das klingt, vorstellbar ist das augenblicklich durchaus. Denn Chips sind einer der Schwachpunkte, einer von vielen (und die Verbindung zu Russland ist das hochreine Neongas, das für die Laser zur Chipproduktion benötigt wird). Und zumindest bei den Luxusmodellen ist der Ertrag hoch genug, dass immer noch ein Gewinn bleibt, wenn mit den Chips eine Waschmaschine gekauft wird.

Nun kann dieser Mangel durchaus noch das Produkt jener Probleme sein, die schon vor der Sanktionswelle bestanden. Klar ist aber: Die Probleme, die sich bereits letztes Jahr ohne die Sanktionen abgezeichnet hatten, bei Elektronikbauteilen wie bei Baumaterialien, haben sich jetzt vervielfacht und in alle Sektoren der Produktion hinein ausgebreitet.

Inzwischen hat sich die Information, welche Produktionssektoren unmittelbar von einem Mangel an Energie oder an Erdgas betroffen sind oder betroffen sein werden, bis in die Konzernmedien herumgesprochen: Düngerproduktion, Beton, Glas- und Stahlerzeugung. Aber letztlich wird es kaum einen Bereich geben, der auf die eine oder andere Weise nicht betroffen ist.

Wenn die Ampelkoalition weiter auf E-Autos setzt, so wenig Sinn es auch ergibt, die Stromnachfrage zu erhöhen, wenn die Versorgung nicht gesichert ist – für die Ladestationen müssen Kabel verlegt werden. Kabel sind aus Kupfer. Kupfer kommt auf dem Weltmarkt erst einmal aus Chile, da haben sich aber chinesische Firmen eingekauft, und dann aus Russland. Es gibt also nicht nur das Problem, dass der Preis steigt; es gibt zusätzlich die Frage, ob die Verkäufer überhaupt hierher verkaufen.

Aber die Verknüpfung Stromkabel – Kupfer ist relativ simpel. Die Ursachen dafür, dass die Folgen solcher Sanktionen gegenwärtig selbst beim besten Willen gar nicht berechnet werden könnten, liegen tiefer und haben mit den Umgestaltungen zu tun, die in den letzten Jahrzehnten bei Unternehmensstrukturen wie Produktionsabläufen stattfanden.

Bis in die 1980er hinein hatte es bei großen Konzernen die Bestrebung gegeben, die gesamte Lieferkette unter eigene Kontrolle zu bringen. Sprich, dass von der kleinsten Schraube bis zum fertigen Produkt alles innerhalb einer Firma gefertigt wurde. Dann änderte sich die Strategie. Zum einen wurde es Mode, unter anderem, um durch das Verschieben von Geld von einem Teil in den anderen Steuern zu sparen, alles in viele kleine Unterfirmen aufzuteilen, also die Gebäude in der einen GmbH, die Beschäftigten in einer weiteren, die Lagerhaltung in einer dritten unterzubringen etc. Gleichzeitig wurde das, was in den Jahrzehnten zuvor eingesammelt worden war, wieder nach außen verlagert und nur noch die letzte Phase der Produktion im eigenen Unternehmen gehalten. Das ermöglichte es, die Produktion von Vorprodukten in Billiglohnländer zu verlagern. Ein Beispiel dafür sind die Kabelbäume für die Automobilproduktion, die in der Ukraine gefertigt wurden und jetzt eben ausfallen.

Ein Problem bei dieser Aufteilung ist nicht nur, dass die vielen Transportwege anfällig sind. Die ganze Just-in-Time-Ideologie ist, auch wenn sie historisch die Umsetzung der Logistik des Zweiten Weltkriegs in die Wirtschaftsabläufe ist, eine Schönwetterstruktur, die voraussetzt, dass der ganze Bereich der Logistik reibungslos funktioniert. Deshalb die Ausfälle im letzten Jahr, als sich vor den Häfen der USA die Schiffe stauten und weltweit Container fehlten.

Ein weiteres Problem, das sich bemerkbar machen wird, ist, dass die Kontrolle über die Produktion immer auch Kontrolle über die Information bedeutet. Im alten Modell, als Produktionsabläufe integriert wurden, hätte die jeweilige Firma jederzeit gewusst, welche spezifischen Rohstoffe und Kleinteile erforderlich sind. Bei weltweit verteilten Produktionsabläufen in jeweils eigenen Strukturen werden diese Informationen aber nicht mehr gebündelt, und damit ist am einen Ende gar nicht mehr bekannt, welche Ereignisse am anderen Ende einen Stillstand auslösen können.

Gleichzeitig hat diese Strategie dazu geführt, dass im Zulieferbereich teils Monopole entstanden sind. Das heißt, es gibt einzelne Lieferanten, deren Ausfall ganze Branchen zum Stillstand bringt. Auch da sind die Folgen schwer absehbar.

Ein Beispiel dafür fand sich vor Kurzem in Gestalt der Europaletten. Gefertigt werden sie an allen möglichen Orten, eher als Nebenprodukt; schließlich bestehen sie aus dem billigsten Holz; entscheidend dabei ist nur die genormte Größe, die es ermöglicht, unterschiedlichste Güter auf ihnen zu stapeln und in genau berechnetem Raum zum Transport unterzubringen. Zur Produktion von Europaletten braucht es allerdings Nägel. Die Nägel für die Europaletten kommen von inzwischen nur noch einem Hersteller in Europa. Das klingt albern, oder? Aber Nägel sind aus Stahl, und die Stahlproduktion leidet unter dem Energiepreis. Also gab es keine Nägel; demzufolge einen Mangel an Europaletten; und letztlich wurden dann, über die Vermittlung der Paletten, Transportgüter betroffen, an die man nie denken würde, wenn man hört, dass die Energiekosten zu einem Rückgang der Stahlerzeugung führen.

Glaubt ernstlich jemand, dass bei der Erarbeitung der Sanktionen irgendjemand an einen Mangel an Europaletten gedacht hat? Ohne diese Paletten funktioniert aber weder die Lagerhaltung noch der Transport. Ganze automatische Lager sind darauf eingerichtet, dass computergesteuerte Gabelstapler diese genormten Paletten nur noch aus den Hochregalen heben. Wie soll das ohne die Paletten funktionieren? Soll jemand auf das Hochregal klettern und die Waren herunterwerfen? Oder mit einem Flaschenzug herunterlassen? Selbst wenn das machbar wäre, das dafür erforderliche Personal gäbe es nicht.

Die ökonomische Ideologie der letzten Jahrzehnte verfolgte vor allem ein Ziel: jede Redundanz aus dem System zu entfernen. Im Bereich der Produktion, nicht dem der Verwaltung. Redundanzen sind aber stabilisierend. Zulieferfirmen für die Automobilproduktion in China erhöhten die Profite, weil es möglich war, die Preise der Produkte dadurch zu drücken; sie erhöhten aber gleichzeitig die Störungsanfälligkeit. Da läuft es in der gesamten Ökonomie nicht anders als im Gesundheitswesen, in dem Kliniken, die genau auf die im Alltag erforderliche Zahl an Betten zugeschnitten sind, plötzlichen Katastrophen nicht gewachsen sind.

Aber allzu viel Augenmerk dürfte bei der Gestaltung der Sanktionspakete ohnehin nicht auf reale Produktion gelegt worden sein. Der Ökonom Michael Hudson beschreibt die beabsichtigten Folgen so: "Das Ergebnis ist ein massiver Anstieg der Treibstoff-, Öl- und Energiepreise und ein massiver Anstieg der Lebensmittelpreise bei sinkendem Angebot. Das sorgt dafür, dass der größte Teil Afrikas und Lateinamerikas – die Länder der Dritten Welt, der globale Süden – ihre Auslandsschulden nicht mehr zahlen können." Der Energieverbrauch pro Kopf, schreibt er, ist seit 150 Jahren unmittelbar mit der Höhe der Einkommen verknüpft. Die höheren Energiekosten müssen also irgendwie bewältigt werden. Und da soll nun, schreibt er mit Verweis auf Janet Yellen, der IWF zum Zuge kommen und Sonderziehungsrechte gewähren, die gleichzeitig, und das ist das Ziel des Manövers, die betroffenen Länder für die nächsten Jahrzehnte wieder an die Schuldenleine legen.

Die Beseitigung europäischer Konkurrenz ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die Aufrechterhaltung der kolonialen Struktur, die, das zeigte sich in den letzten Jahren deutlich genug, über das Klimageschwätz allein nicht zu erhalten ist. Aber dennoch dürfte sich auch Frau Yellen, inzwischen US-Finanzministerin, gravierend verrechnet haben.

Nicht nur, weil es längst nicht mehr nur der IWF und die USA sind, die Kredite bieten; in den letzten Jahren wurde China auch auf diesem Feld immer mehr zur Konkurrenz, und zu deutlich besseren Bedingungen; nicht nur, weil die reale Kontrolle über die realen Energierohstoffe wie über die globalen Weizenüberschüsse ebenfalls nicht mehr in den Händen der USA und ihrer Vasallen liegt; auch, weil sie sich sowohl in der Verletzlichkeit als auch in der Größe der US-Ökonomie gewaltig vertan haben dürfte.

Wenn man unterschiedliche Länder ökonomisch miteinander vergleicht, schaut man meist auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Allerdings fließen in dieses BIP eine ganze Reihe an Werten ein, die nicht für reale Gegenstände oder Handlungen stehen. Das ist zum einen in den USA ein Teil der Finanzwirtschaft, Börsenumsätze beispielsweise; das BIP steigt auch durch Käufe und Verkäufe hoffnungslos aufgeblasener Immobilienwerte. Das sind aber auch, in den USA wie in der EU, Umsätze aus "geistigem Eigentum", also aus dem ganzen Bereich Patente, Markenrechte, Copyrights etc. Deren Anteil am BIP lässt sich zwar nicht genau beziffern, liegt aber in beiden Fällen mindestens bei 15 Prozent. Die Obergrenze liegt aber bereits bei einem Viertel.

Wer also die wirkliche ökonomische Leistungsfähigkeit beispielsweise Deutschlands mit der Russlands vergleichen will, müsste diesen ganzen Teil herausrechnen. Es gibt aber keine genauen Zahlen, wie hoch der Anteil aus Spekulation und Rentenwirtschaft am BIP tatsächlich ist. Wenn es sie gäbe, wäre aber immer noch keine Grundlage für einen wirklichen Vergleich erreicht, weil z. B. der US-Dollar relativ überbewertet ist. Man müsste irgendwie die vorhandene Geldmenge der jeweiligen Währung in Bezug zur tatsächlich vorhandenen Menge der Güter setzen; selbst eine Korrektur durch die Kaufkraftparität ist unvollständig. Es lässt sich allerdings relativ problemlos sagen, dass es weitaus mehr fiktives Geld im Dollar- und im Euroraum gibt als in Rubel oder Yuan.

Nun muss man aber davon ausgehen, dass das Personal selbst der zuständigen Ministerien inzwischen den Unterschied zwischen fiktiven und realen Werten, zwischen reinen Ansprüchen auf ein Mehrprodukt und wirklichem Mehrprodukt nicht mehr versteht und der festen Überzeugung ist, wenn auf einem von Microsoft gelieferten Datenbündel ein Etikett von 100 Euro klebt, das auch 100 Euro wert sei. Dementsprechend werden nicht nur eigene essenzielle Verwundbarkeiten unterschätzt, die eigene wirtschaftliche Stärke wird gleichzeitig maßlos überschätzt. Es verhält sich damit nicht anders als mit der Bewertung der militärischen Stärke. Dass es seit den 1970ern gelungen ist, die Krise der realen Produktion durch das Erzeugen immer größerer Blasen hinauszuschieben, ändert nichts an der Tatsche, dass all diese Blasen letztlich nur mit Luft gefüllt und alle Zahlen, die auf diesen Blasen beruhen, notwendigerweise falsch sind.

Der Kinderbuchautor Michael Ende hat in seinem Buch "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer" dafür eine passende Gestalt erfunden – den Scheinriesen. Der Scheinriese wirkt aus der Ferne gigantisch, aber er wird immer kleiner, je näher man ihm kommt. Wenn man vor ihm steht, ist er gar kein Riese mehr. Die Ökonomie des Westens ist schon lange ein Scheinriese. Jetzt steht der Scheinriese direkt vor einem Spiegel und muss erschüttert erkennen, wie klein er ist.

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