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Krieg der Wirtschaftskorridore: Der Indien-Nahost-Europa-Trick

Der Verkehrskorridor Indien-Nahost-Europa mag in aller Munde sein, aber er wird wahrscheinlich den Weg der letzten drei vom Westen angepriesenen Verbindungsprojekte zwischen Asien und Europa gehen – in den Mülleimer. Pepe Escobar erklärt die Gründe.
Krieg der Wirtschaftskorridore: Der Indien-Nahost-Europa-TrickQuelle: www.globallookpress.com © GTW/imageBROKER.com

Von Pepe Escobar

Der Wirtschaftskorridor Indien-Naher Osten-Europa (IMEC) ist ein umfangreiches Projekt der öffentlichen Diplomatie, das auf dem jüngsten G20-Gipfel in Neu-Delhi ins Leben gerufen und am 9. September mit einer Absichtserklärung unterzeichnet wurde. 

Zu den Akteuren gehören die USA, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und die EU, wobei den drei führenden Mächten Deutschland, Frankreich und Italien eine besondere Rolle zukommt. Es handelt sich um ein multimodales Eisenbahnprojekt, das mit Umladungen und zusätzlichen digitalen und elektrischen Straßen nach Jordanien und Israel verbunden ist. 

Wenn dies wie die verspätete Antwort des Westens auf Chinas Belt and Road Initiative (BRI/Gürtel- und Straßeninitiative) aussieht, die vor zehn Jahren ins Leben gerufen wurde und nächsten Monat in Peking mit einem BRI-Forum gefeiert wird, dann deshalb, weil es so ist. Und ja, es ist vor allem ein weiteres amerikanisches Projekt zur Umgehung Chinas, das zu kruden Wahlkampfzwecken als magerer außenpolitischer "Erfolg" dargestellt werden soll.  

Kaum jemand in der globalen Öffentlichkeit erinnert sich daran, dass die Amerikaner ihren eigenen Seidenstraßenplan schon im Jahr 2010 entwickelt haben. Das Konzept stammte von Kurt Campbell aus dem Außenministerium und wurde von der damaligen Außenministerin Hillary Clinton als ihre Idee verkauft. Die Geschichte ist unerbittlich, es wurde nichts daraus.  

Und kaum jemand in der globalen Öffentlichkeit erinnert sich an den Plan der Neuen Seidenstraße, mit dem Polen, die Ukraine, Aserbaidschan und Georgien Anfang der 2010er Jahre hausieren gingen, komplett mit vier problematischen Umschlagplätzen im Schwarzen und im Kaspischen Meer. Die Geschichte ist unerbittlich, auch dieser Plan ist gescheitert.

Tatsächlich erinnern sich nur sehr wenige in der globalen Öffentlichkeit an das von den USA gesponserte 40-Billionen-Dollar-Projekt Build Back Better World (BBBW oder B3W), das vor zwei Sommern mit großem Tamtam vorgestellt wurde und sich auf "Klima, Gesundheit und Gesundheitssicherheit, digitale Technologie sowie Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung" konzentrierte. 

Ein Jahr später, bei einem G7-Treffen, war B3W bereits zu einem 600 Milliarden Dollar schweren Infrastruktur- und Investitionsprojekt geschrumpft. Natürlich wurde nichts gebaut. Die Geschichte ist wirklich unerbittlich, es ist nichts daraus geworden. 

Das gleiche Schicksal erwartet den IMEC, und zwar aus einer Reihe von sehr spezifischen Gründen.

Schwenken in eine schwarze Leere 

Das gesamte IMEC-Konzept beruht auf dem, was der Schriftsteller und ehemalige Botschafter M.K. Bhadrakumar köstlich als "Heraufbeschwörung des Abraham-Abkommens durch die Magie eines saudi-israelischen Tangos" beschrieb.

Dieser Tango ist eine "Totgeburt"; nicht einmal der Geist von Piazzolla kann ihn wiederbeleben. Zunächst einmal hat einer der Hauptakteure - der saudische Kronprinz Mohammad bin Salman - deutlich gemacht, dass Riads Prioritäten eine neue, von China vermittelte Beziehung zum Iran, zur Türkei, und zu Syrien nach dessen Rückkehr in die Arabische Liga sind. 

Darüber hinaus haben sowohl Riad als auch sein emiratischer IMEC-Partner immense Handels-, Gewerbe- und Energieinteressen mit China, sodass sie nichts machen werden, was Peking verärgern könnte.

Vordergründig schlägt der IMEC ein gemeinsames Vorgehen der elf G7- und BRICS-Staaten vor. Das ist die westliche Methode, um das ewig schwankende Indien unter Modi und das mit den USA verbündete Saudi-Arabien und die VAE für seine Agenda zu gewinnen. 

Die eigentliche Absicht besteht jedoch nicht nur darin, die BRI zu untergraben, sondern auch den Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INTSC), bei dem Indien neben Russland und dem Iran ein wichtiger Akteur ist.  

Das Spiel ist ziemlich plump und eigentlich ziemlich offensichtlich: ein Transportkorridor, der dazu gedacht ist, die drei wichtigsten Vektoren der echten eurasischen Integration – und die BRICS-Mitglieder China, Russland und Iran – zu umgehen, indem er mit einem verlockenden Zuckerbrot der Teilung und Herrschaft lockt, das Dinge verspricht, die nicht gehalten werden können. 

Die amerikanische neoliberale Besessenheit in dieser Phase des "neuen großen Spiels" dreht sich wie immer um Israel. Ihr Ziel ist es, den Hafen von Haifa lebensfähig und ihn zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt zwischen Westasien und Europa zu machen. Alles andere wird diesem israelischen Imperativ untergeordnet. 

IMEC wird im Prinzip quer durch Westasien verlaufen, um Indien mit Ost- und Westeuropa zu verbinden und die Fiktion zu verkaufen, dass Indien ein globaler Drehpunkt und eine Konvergenz der Zivilisationen ist. 

Das ist Unsinn. Indiens großer Traum ist es zwar, ein Drehpunktstaat zu werden, aber die beste Chance hätte es über das bereits in Betrieb befindliche INTSC, das Neu-Delhi Märkte von Zentralasien bis zum Kaukasus öffnen könnte. Ansonsten ist Russland als globaler Drehpunktstaat Indien diplomatisch weit voraus, und China ist bezüglich Handel und Konnektivität weit voraus. 

Vergleiche zwischen dem IMEC und dem chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sind müßig. IMEC ist ein Witz im Vergleich zu dem Vorzeigeprojekt BRI: dem 57,7 Milliarden Dollar teuren Plan zum Bau einer über 3.000 Kilometer langen Eisenbahnstrecke, die Kashgar in Xinjiang mit Gwadar am Arabischen Meer verbinden soll und an andere BRI-Korridore auf dem Landweg in Richtung Iran und Türkei anschließen wird.

Für China ist dies eine Frage der nationalen Sicherheit. Man kann also darauf wetten, dass die Führung in Peking vor oder während des BRI-Forums einige diskrete und ernsthafte Gespräche mit der aktuell an der Macht befindlichen "Fünften Kolonne" in Islamabad führen wird, um sie an die relevanten geostrategischen, geoökonomischen und investitionsbezogenen Fakten zu erinnern.

Was bleibt also bei all dem für den indischen Handel übrig? Nicht viel. Man nutzt bereits den Suezkanal, eine direkte, bewährte Route. Es gibt keinen Anreiz, überhaupt darüber nachzudenken, in den riesigen Wüstengebieten rund um den Persischen Golf in schwarzen Löchern festzusitzen. 

Ein eklatantes Problem ist zum Beispiel, dass fast 1.100 Kilometer Gleise an der Bahnstrecke von Fudschaira in den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Haifa "fehlen", 745 Kilometer fehlen von Jebel Ali in Dubai nach Haifa und 630 Kilometer fehlen an der Bahnstrecke von Abu Dhabi nach Haifa. 

Wenn man alle fehlenden Verbindungen zusammenzählt, sind es über 3.000 Kilometer Eisenbahnstrecke, die noch gebaut werden müssen. Die Chinesen können das natürlich zum Frühstück und zum Nulltarif machen, aber sie sind nicht Teil dieses Spiels. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die IMEC-Bande plant, sie einzuladen. 

Alle Augen sind auf Sjunik gerichtet

Im Krieg der Transportkorridore, der auf The Cradle im Juni 2022 ausführlich behandelt wurde, wird deutlich, dass die Absichten nur selten der Realität entsprechen. Bei diesen großen Projekten geht es um Logistik, Logistik, Logistik – natürlich in Verbindung mit den drei anderen wichtigen Säulen: Energie und Energieressourcen, Arbeit und Produktion sowie Markt/Handelsregeln. 

Betrachten wir ein Beispiel aus Zentralasien: Russland und drei zentralasiatische Länder – Kirgisistan, Usbekistan und Turkmenistan – planen einen kombinierten südlichen Verkehrskorridor, der Kasachstan umgehen soll. 

Und warum? Schließlich ist Kasachstan neben Russland ein wichtiges Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). 

Der Grund dafür ist, dass dieser neue Korridor zwei Schlüsselprobleme für Russland löst, die durch die Sanktionshysterie des Westens entstanden sind. Er umgeht die kasachische Grenze, wo alles, was nach Russland geht, genauestens kontrolliert wird. Und ein erheblicher Teil der Fracht kann nun in den russischen Hafen von Astrachan im Kaspischen Meer gebracht werden. 

Astana, das unter dem Druck des Westens ein riskantes Absicherungsspiel gegenüber Russland gespielt hat, könnte somit den Status eines vollwertigen Verkehrsknotenpunkts in Zentralasien und der Region am Kaspischen Meer verlieren. Kasachstan ist auch Teil der BRI; die Chinesen sind bereits sehr an dem Potenzial dieses neuen Korridors interessiert.

Im Kaukasus ist die Geschichte noch komplexer, und wieder einmal geht es um "Teile und Herrsche". 

Vor zwei Monaten verpflichteten sich Russland, Iran und Aserbaidschan zum Bau einer einzigen Eisenbahnlinie vom Iran und seinen Häfen am Persischen Golf durch Aserbaidschan, die an das russisch-osteuropäische Eisenbahnsystem angeschlossen werden soll. 

Dabei handelt es sich um ein Eisenbahnprojekt in der Größenordnung der Transsibirischen Eisenbahn, das Osteuropa mit Ostafrika und Südasien unter Umgehung des Suezkanals und europäischer Häfen verbinden soll. Der INSTC auf Steroiden, um genau zu sein. 

Raten Sie mal, was als Nächstes geschah? Eine Provokation in Bergkarabach, in die nicht nur Armenien und Aserbaidschan, sondern auch der Iran und die Türkei verwickelt werden könnten. 

Teheran hat seine roten Linien glasklar dargelegt: Es wird niemals eine Niederlage Armeniens mit direkter Beteiligung der Türkei zulassen, die Aserbaidschan voll unterstützt.

Hinzu kommen gemeinsame Militärübungen mit den USA in Armenien – das zufällig Mitglied der von Russland geführten OVKS ist – die für die Öffentlichkeit als eines dieser scheinbar unschuldigen NATO-Partnerschaftsprogramme dargestellt werden. 

All dies deutet auf eine Nebenhandlung des IMEC hin, die das INTSC untergraben soll. Sowohl Russland als auch der Iran sind sich der endemischen Schwächen des INTSC voll bewusst: politische Probleme zwischen mehreren Teilnehmern, die "fehlenden Glieder" der Strecke und alle wichtigen Infrastruktureinrichtungen, die noch gebaut werden müssen.

Der türkische Sultan Recep Tayyip Erdoğan seinerseits wird den im Waffenstillstand von 2020 vorgesehenen Zangezur-Korridor durch die südarmenische Provinz Sjunik, der Aserbaidschan über die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan mit der Türkei verbindet und durch armenisches Territorium führen wird, niemals aufgeben.

Baku hat damit gedroht, Südarmenien anzugreifen, wenn der Zangezur-Korridor nicht von Jerewan ermöglicht wird. Sjunik ist also das nächste große ungelöste Problem in diesem Rätsel. Teheran wird nichts unversucht lassen, um einen türkisch-israelischen NATO-Korridor zu verhindern, der den Iran von Armenien, Georgien, dem Schwarzen Meer und Russland abschneidet. Dies wäre die Realität, wenn diese NATO-gefärbte Koalition sich Sjunik einverleibt. 

Heute treffen sich Erdoğan und Aserbaidschans Präsident Ilcham Alijew in der Enklave Nachitschewan zwischen der Türkei, Armenien und dem Iran, um eine Gaspipeline in Betrieb zu nehmen und einen militärischen Produktionskomplex zu eröffnen.   

Der Sultan weiß, dass Zangezur es der Türkei endlich ermöglichen könnte, über einen Korridor, der die türkische Welt, Aserbaidschan und das Kaspische Meer durchquert, mit China verbunden zu werden. Dies würde es dem kollektiven Westen auch ermöglichen, noch kühner auf "Teile und Herrsche" gegen Russland und den Iran zu setzen. 

Ist der IMEC eine weitere weit hergeholte westliche Fantasie? Der Ort, den man beobachten sollte, ist Sjunik.

Aus dem Englischen. Zuerst erschienen bei The Cradle.

Pepe Escobar ist Kolumnist bei The Cradle, leitender Redakteur bei Asia Times und unabhängiger geopolitischer Analyst mit Schwerpunkt Eurasien. Seit Mitte der 1980er Jahre hat er als Auslandskorrespondent in London, Paris, Mailand, Los Angeles, Singapur und Bangkok gelebt und gearbeitet.

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