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Brüssel ist in dieselbe Falle getappt wie Paris – Gibt es für die EU einen Ausweg?

Wie die Geschichte, Identitäten und Bestrebungen nach Autonomie der verschiedenen Menschen in Frankreich, die strukturelle Identität und politische Integration der EU widerspiegeln, zeigt, dass beide die schwierige Aufgabe haben, Identitäten zu verwalten.
Brüssel ist in dieselbe Falle getappt wie Paris – Gibt es für die EU einen Ausweg?Quelle: www.globallookpress.com © P. Royer

Von Matthieu Buge

Frankreich ist ein mittelgroßes Land mit einer breiten Diversität sprachlicher Akzente, Landschaften und kulinarischer Traditionen. Frankreich ist in vielerlei Hinsicht mehr als jedes andere europäische Land ein Spiegelbild der Europäischen Union. Als Knotenpunkt der keltischen, fränkischen, iberischen und lateinischen Völker, liegen die Grundlagen für die Entstehung Frankreichs weniger in einer kulturellen Identität, als vielmehr im Verwaltungsprozess, der schließlich zur Gründung des Staates Frankreich führte.

Eine Geschichte der Zentralisierung der Macht

Die Geschichte Frankreichs ist gewalttätig und langwierig. Der Begriff "Frankreich" tauchte offiziell erst um 1190 auf, als Philippe Auguste begann, den lateinischen Ausdruck "Rex Franciae" (König von Frankreich) anstelle von "Rex Francorum" (König der Franken) zu verwenden. Wenn man diese Zeit als die Zeit der Entstehung eines Nationalbewusstseins betrachten will, muss man bedenken, dass das Land zu dieser Zeit weder die Provence, Savoyen noch einen Teil des Burgunds und Elsass-Lothringen umfasste. Gleichzeitig stand der gesamten Westen von Frankreich, von der Normandie bis zu den Pyrenäen, unter dem Einfluss des britischen Hauses der Plantagenets.

Der französische Historiker Barthélemy Pocquet du Haut-Jussé schrieb 1946: "Lasst uns vor allem nicht vergessen, dass Frankreich im zwölften Jahrhundert nur dem Anschein nach eine Monarchie war." Unter der Ehrenpräsidentschaft eines gutmütigen Königshauses war im zehnten Jahrhundert eine starke Konföderation großer Lehnsgüter entstanden, die im zwölften Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte." Landkarten aus der Zeit zeigen, dass die königliche Domäne in dieser Zeit auf Paris und seine südliche Region beschränkt war.

Der französische Sieg am Ende des Hundertjährigen Krieges gegen England, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, beraubte England seiner kontinentalen Besitztümer und förderte die Umwandlung Frankreichs von einer feudalen Monarchie in einen zentralisierten Staat. Allerdings ließ die territoriale Vollendung des Landes noch einige Jahrhunderte auf sich warten. Der Krieg der Religionen verlangsamte diesen Prozess erheblich und Frankreich musste auf die Kriege Ludwigs XIV. warten, um seine Expansion und Modernisierung wieder aufzunehmen. Das Elsass, Artois und Franche-Comté wurden zwischen 1648 und 1697 annektiert. Das Lehnsgut Lothringen blieb bis 1766 eine Enklave. Korsika wurde 1768 gekauft. Die Provence blieb bis zur Revolution von 1789 de jure unabhängig. Savoyen und Nizza wurden erst 1860 annektiert. Nach Schätzungen des Historikers Eric Hobsbawm, beherrschten zur Zeit der Französischen Revolution 1789, nur die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs die französische Sprache.

Man kann leicht verstehen, dass die Vielfalt innerhalb des französischen Territoriums so groß war, dass Misstrauen, ja sogar Trotz gegenüber einer zentralisierten Macht in Versailles oder Paris, eine Konstante in der Geschichte Frankreichs blieb. Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd, der sich sein Leben lang mit Fragen im Zusammenhang mit Familienstrukturen beschäftigt hat, konnte deutlich aufzeigen, dass deren Vielfalt und Ungleichheit einen großen Einfluss auf die französischen Regionen hatten. Religiöse Überzeugungen sowie landwirtschaftliche und industrielle Dynamik haben sich im ganzen Land auf unterschiedliche Weise entwickelt. Todd zeigte auf, dass die Bretagne, Flandern, das Elsass, die Franche-Comté, Okzitanien und das Baskenland 1791 alle die Zivilverfassung des Klerus ablehnten, ein Gesetz, das 1790 während der Revolution verabschiedet wurde, was die umgehende Unterordnung der Katholiken zur Folge hatte. 

Diese historischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und den Provinzen erklären viele der Probleme, die Frankreich erschütterten – und derzeit immer noch erschüttern. Daraus entstanden die Religionskriege von 1562 bis 1598 und die Fronde, eine Reihe von Bürgerkriegen von 1648 bis 1653, die durch die Stärkung der Monarchie ausgelöst wurden. Oder die konterrevolutionäre Bewegung der Chouannerie und der Krieg in der Vendée nach der Revolution von 1789, die mit dem Massaker an den Vendées endete. Dieses Massaker nahm ein solches Ausmaß an, dass viele in Frankreich heute noch auf die Verwendung des Begriffs "Völkermord" bestehen. Im Jahr 1800 überlebte Napoleon selbst ein von der Chouannerie organisiertes Attentat. Die Wehrpflicht und die sprachliche Vereinigung des Landes sollten zu seinen Werkzeugen werden, um die französische Nation zu festigen.

Die extreme Zentralisierung der Macht war in Frankreich schon immer von grundlegender Bedeutung, einer Nation, die sich nur auf den Staat verlassen konnte, um ihren Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Die Spannungen halten bis heute an. Beispielsweise durch die Bewegung der Gelbwesten, die vor allem eine Revolte des "peripheren Frankreichs gegen das zentralistisch Paris" war, wie der Geograf Christophe Guilluy es umschrieb.

Frankreich ist in dieser Hinsicht ein Vorbild für die EU, da sich diese ebenfalls mit unterschiedlichen Kulturen und Bestrebungen auseinandersetzen muss. Spanier und Polen haben kaum Gemeinsamkeiten, Deutsche und Griechen haben völlig gegensätzliche Wirtschaftsmodelle. Während der griechischen Staatsschuldenkrise prangerten viele die Zentralisierung der Macht und die einseitigen Entscheidungen der Troika an – der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des IWF. Polen ist ein erbitterter Gegner von Einwanderungsquoten, die Brüssel einführen will. Ungarn lehnt die Haltung der EU im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ab. Um sicherzustellen, dass ihre Empfehlungen von ihren Mitgliedern umgesetzt werden, muss die EU auf die Verhängung von Geldstrafen zurückgreifen. Um Frankreich zu befrieden, war eine Zentralisierung der Macht notwendig, und das Ziel, das sich die EU gesetzt hat – den Kriegen in Europa ein Ende zu setzen –, kann nicht durch eine umfassende Machtdelegation erreicht werden.

Separatistische Versuchungen

Im Jahr 1992 verabschiedete der Europarat die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, um historische Regional- und Minderheitensprachen in Europa zu schützen und zu fördern. Frankreich hat diese Charta nicht ratifiziert.

Die territoriale Integrität Frankreichs scheint keiner wirklichen Bedrohung ausgesetzt zu sein, separatistische Ansprüche gab es jedoch schon immer. Fakt ist, dass es allein in 17 Regionen des französischen Mutterlandes separatistische Bewegungen gibt. In einigen von ihnen, etwa im Baskenland, gibt es sogar fünf oder sechs verschiedene Separatistenbewegungen. Der Brexit war ein Vorbild für französische Nationalisten, die aus der EU austreten wollen, aber für die französischen regionalen Bewegungen gelten Schottland und Katalonien als Inspirationen.

Ihre Ideale und Ziele variieren jedoch. In der Franche-Comté beispielsweise streben Aktivisten keine vollständige Unabhängigkeit an – aufgrund der Lage wäre sie dann eine Enklave und wünscht sich daher lediglich Autonomie. In Savoyen hatten die Unabhängigkeitsbestrebungen seit der Annexion im Jahr 1860 keine Auswirkungen, doch in den 1990er-Jahren entstand eine Bewegung zur "De-Annektierung", das heißt zur Forderung der Akzeptanz des Savoyer Regionalismus durch Paris. Die Nationale Befreiungsfront der Provence hingegen plädiert für einen unabhängigen Staat Provence und die Abspaltung von Frankreich. Diese Bewegung trat im Jahr 2012 in Erscheinung und beteiligte sich an einer Bombenkampagne. Die meisten Bomben explodierten zwar nicht und diese klandestine Bewegung scheint irgendwie auch undurchsichtig, aber die französische Regierung gelobte, sie genau im Auge zu behalten.

Vier von diesen Unabhängigkeitsbewegungen scheinen in ihrem Vorgehen jedoch entschlossener zu sein als die anderen und sind auch die bekanntesten. Die Regionalwahlen 2015 zeigten eine Zunahme autonomer oder separatistischer Forderungen im Elsass, im Baskenland, auf Korsika und in der Bretagne. Im Elsass betrachten zwei Parteien – Unser Land und Alsace d’abord (Elsass zuerst) – mit unterschiedlicher politischer Sensibilität, das Elsass als eine eigenständige Nation und fordern von Paris Autonomie. Im Baskenland gibt es fünf Parteien, die die Vereinigung und Autonomie der Basken von Frankreich und Spanien anstreben. Eine von ihnen, Batasuna (Einheit), wurde aufgelöst und in die offizielle Liste der Terrororganisationen der EU aufgenommen, aufgrund ihrer Verbindungen zur bewaffneten baskischen nationalistischen und linksextremen Organisation ETA (Euskadi Ta Askatasuna), die in Spanien Attentate und Bombenanschläge verübte.

In der Bretagne hörte die bretonische Befreiungsfront nach einigen Jahrzehnten terroristischer Aktivitäten auf zu existieren – die berühmteste Episode war der Bombenanschlag auf das Schloss von Versailles im Jahr 1978 –, doch ihre Signatur taucht regelmäßig immer wieder auf. Aktivisten in der Bretagne betrachten sich jedoch als europäische ethnische Minderheit und legen mehr Wert auf eine Dezentralisierung von Paris und den Schutz ihres sprachlichen Erbes. Im Jahr 1992 erhielten 1.774 Schüler ihre Ausbildung in der bretonischen Landessprache, im Jahr 2014 waren es 20.300. Dennoch kann die Bretagne ein Land voller Unruhen für die Zentralregierung sein, wie es im Jahr 2013 deutlich wurde, mit der Bewegung der "Bonnets Rouges" (Rotkappen) gegen die Pariser Entscheidung, neue Steuern auf Lkw-Transporte zu erheben.

Die Haltung Korsikas ist die wohl bekannteste. Der Stolz und die gewalttätige Entschlossenheit der Korsen sind so groß, dass sie seit Jahrzehnten Gegenstand von Witzen, Büchern, Filmen und der Sorge der französischen Regierung sind. "A bandera testa mora", die berühmteste Regionalflagge Frankreichs, scheint an sich schon ein Symbol einer Befreiungsfront zu sein. Im Jahr 1914 hieß es in der politischen Zeitschrift "A Cispra" (das alte Gewehr): "Korsika ist kein französisches Departement. Korsika ist eine Nation, die erobert wurde und wiedergeboren werden wird." Aktivisten versuchen, dieses Ziel entweder durch politische Maßnahmen oder gewalttätige Aktivitäten zu erreichen, was mit der berüchtigten Ermordung des Präfekten Claude Érignac im Jahr 1998 seinen Höhepunkt erreichte.

Man kann leicht verstehen, dass die EU-Politik zugunsten regionaler kultureller Identitäten nicht zum traditionellen französischen Nationalmythos passt – ebenso wie nationale Ansprüche der EU-Mitgliedsstaaten nicht zu der Art und Weise passen, wie Brüssel und die Europäische Kommission den Prozess der "europäischen Integration" verstehen. Brüssel muss den Pariser Weg gehen und dabei versuchen, jeden Konflikt zu vermeiden.

Regionale (und digitale) Identität

In einem Artikel in Le Figaro aus dem Jahr 2017 war zu lesen: "Um den Ursprung der Geschichte ihrer Regionen zu erzählen, nähern sich die meisten von Le Figaro kontaktierten nationalistischen Bewegungen dem gleichen Datum an: dem 25. August 1539.

In diesem Jahr unterzeichnete Franziskus der Erste die Verordnung von Villers-Cotterêts, die Französisch als Amtssprache des Königreichs einführte. Tatsächlich bestehen alle diese Unabhängigkeitsbewegungen auf der Bedeutung ihrer eigenen Sprache. Denn obwohl es wahr ist, dass Regionen mehr politische Autonomie von Paris wollen, liegt die wahre Motivation der Aktivisten in der Wahrnehmung ihrer Identität. Die Bedeutung regionaler Flaggen, die häufig Teil von Demonstrationen sind, darf nicht unterschätzt werden. Die bereits erwähnte korsische Flagge dürfte die bekannteste sein; die Menschen in der Bretagne haben eine sentimentale Beziehung zu ihrem "Gwenn ha du" – vielleicht weil sie in der Vergangenheit verboten wurde –, genauso wie die Basken stolz auf ihre "Ikurriña" sind, die ein Symbol sowohl für ihre kulturelle Einheit als auch für ihre Hoffnungen ist und als die offizielle Flagge der spanischen baskischen autonomen Gemeinschaft gilt. Darüber hinaus werden in der Bretagne mehrere lokale Währungen verwendet, die exotische Namen wie "Galleco", "Buzuk" und "Bizh" tragen. Diese symbolischen Initiativen zeigen den Wunsch der Regionen, sich von Paris zu distanzieren.

Interessanterweise ist die regionale Identität im Jahr 2023 auch digital. So wie es innerhalb der EU nationale Domains wie .it (Italien), .de (Deutschland) und .fr (Frankreich) gibt, sind auch in Frankreich regionale Domains aufgetaucht. Wenig überraschend umfasst dies nur die großen Vier: Bretagne (.bzh), Elsass (.alsace), Korsika (.corsica) und das Baskenland (.eus).

Auch Brüssel muss sich im europäischen Integrationsprozess mit der Frage der Identitäten befassen. Viele Kritiker der EU sagen, es mangele ihr an kultureller Integration. Das Beispiel Frankreichs zeigt, dass Sprache ein zweischneidiges Schwert sein kann. Einerseits hat es tatsächlich dazu beigetragen, in Frankreich ein Nationalgefühl zu schaffen, es bringt aber auch tiefe Frustrationen mit sich. Darüber hinaus kann die inoffizielle Sprache der EU – Englisch – die meisten ihrer Mitglieder nicht zufriedenstellen, insbesondere seit das Vereinigte Königreich die Union im Jahr 2016 verlassen hat.

Der Aufbau Frankreichs und die europäische Integration haben jedoch viele Gemeinsamkeiten. Umfragen zeigen, dass beider Stabilität als politische Einheiten recht ähnlich sind. Im Jahr 2019 ergab eine Ipsos-Umfrage, dass 59 Prozent der französischen Bevölkerung das Gefühl hatten, einer nationalen Gemeinschaft anzugehören, während 61 Prozent der Landbevölkerung das gegenteilige Gefühl hatten. Laut Angaben des Europäischen Parlaments im Jahr 2022, empfanden 62 Prozent der europäischen Bevölkerung die Tatsache, dass ihr Land Teil der EU ist, als positiv. Ein großer Teil Europas äußert immer noch Misstrauen gegenüber Brüssel, ebenso wie ein großer Teil der französischen Bevölkerung Paris misstraut. Beide haben die schwierige Aufgabe, Identitäten zu verwalten. Und das von der französischen Regierung im Jahr 2021 verabschiedete Gesetz gegen den Separatismus, der sich hauptsächlich gegen den "politischen Islam" richtet, impliziert, dass die massiven Einwanderungswellen, die in Europa ankommen, die Prozesse der Staats- und Gemeinschaftsbildung nur erschweren werden.

Übersetzt aus dem Englischen.

Matthieu Buge hat für das französische Magazin "L'Histoire", das russische Film-Magazin "Séance" sowie als Kolumnist für "Le Courrier de Russie" gearbeitet. Er ist Autor des Buches "Le cauchemar russe" ("Der russische Albtraum").

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