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In der neuen Weltordnung zeigen Russlands Waffen nach Westen, seine Wirtschaft nach Osten

Die USA und ihre engsten Verbündeten haben das Vertrauen in die internationalen Organisationen zerstört, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden. Die neuen internationalen Strukturen in Eurasien bauen wieder auf das Völkerrecht.
In der neuen Weltordnung zeigen Russlands Waffen nach Westen, seine Wirtschaft nach OstenQuelle: Legion-media.ru © Aleksey Butenkov

Eine Analyse von Glenn Diesen

Ursprünglich waren die sich vervielfältigenden wirtschaftlichen Verbindungen Aufgabe grenzüberschreitender Institutionen in Eurasien, da die entstehende multipolare Weltordnung eine verringerte Abhängigkeit von westzentrierten Institutionen verlangte, die zögerten, sich an die neuen Realitäten anzupassen.

Die jetzige europäische Krise hat jedoch die Welt destabilisiert und die Fähigkeit des Westens, wirtschaftliche Zusammenarbeit zu erleichtern, in Zweifel gezogen. In der Folge übernehmen nun diese Institutionen eine zentrale Rolle dabei, wirtschaftliche Erholung und pragmatische Zusammenarbeit zu organisieren.

Die internationalen Institutionen spiegeln die Macht wider

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vereinten Nationen (UN) als entscheidende Autorität des Völkerrechts gegründet. Sie wurden eine stabile und belastbare Institution, die die Machtverteilung wiedergab. Die mächtigsten Staaten erhielten in ihrem Sicherheitsrat besondere Vorrechte, um sicherzustellen, dass sie ein Interesse daran hatten, die zentrale Rolle der Organisation zu erhalten. Das Völkerrecht stand über der Souveränität durch das Gleichgewicht der Macht, das sicherstellte, dass alle Seiten bereit waren, etwas an Flexibilität in ihrer Außenpolitik im Austausch für Gegenseitigkeit und daher Vorhersagbarkeit zu opfern.

Die Bemühungen, eine paneuropäische Sicherheitsstruktur zu schaffen, begannen mit den Verträgen von Helsinki 1975, die versuchten, eine Ordnung auf Grundlage einer "souveränen Gleichheit" und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zu errichten. Die darauffolgende Entwicklung wechselseitigen Vertrauens trug dazu bei, dass Gorbatschow und Bush 1989 auf Malta das Ende des Kalten Krieges erklärten, und die Bemühungen zum Aufbau einer paneuropäischen Sicherheitsarchitektur gingen weiter. Die Charta von Paris für ein Neues Europa 1990 rief dazu auf, die "Teilung des Kontinents" zu überwinden und ein System "souveräner Gleichheit" und "unteilbarer Sicherheit" zu schaffen, in der Staaten ihre Sicherheit nicht auf Kosten anderer erhöhen würden. Das Dokument von Budapest 1994 verwandelte die Verträge von Helsinki in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Diese inklusive paneuropäische Einrichtung bestätigte die Prinzipien von "souveräner Gleichheit" und "unteilbarer Sicherheit".

Der Kollaps der paneuropäischen Sicherheitsarchitektur

Die Sowjetunion brach 1991 zusammen, und Russland schien sich während der 1990er im unumkehrbaren Abstieg zu befinden. In der Folge gab die ausgehandelte paneuropäische Sicherheitsordnung nicht länger das Kräftegleichgewicht wider, das zuvor geherrscht hatte, als der Kalte Krieg 1989 endete. In der unipolaren Welt folgten die USA einer Sicherheitsstrategie, die auf einem hegemonialen Frieden beruhte, und forderten die Revision der Institutionen und der Regeln, die das internationale System beherrschten.

Der Westen gab die paneuropäischen Sicherheitsvereinbarungen auf, die in den frühen 1990ern unterzeichnet worden waren, und startete stattdessen eine Initiative, ein neues "Europa" ohne Russland zu schaffen.

Die fortgesetzte Erweiterung der NATO schloss mit ein, dass die Trennlinien in Europa nicht gelöscht, sondern schlicht schrittweise zur russischen Grenze hin verschoben wurden. Das Prinzip der "unteilbaren Sicherheit" wurde in der Folge aufgegeben, als der Westen seine Sicherheit auf Kosten Russlands erweiterte.

Bizarrerweise ignoriert die Ideologie der liberalen Internationalisten die Existenz eines Sicherheitsdilemmas. Sie glauben, Russland könne eine Bedrohung des Westens sein, dennoch könne die NATO nicht als Gefahr gesehen werden, da sie nur ihre Werte verbreitet.

Das Ringen darum, wo die neuen Trennlinien in Europa zu ziehen wären, führte dazu, dass die NATO und Russland entgegengesetzte politische Kräfte in den geteilten Ländern der gemeinsamen Nachbarschaft förderten – Moldawien, Georgien, Weißrussland und Ukraine. Im November 2013 lehnte Brüssel den Vorschlag Kiews für eine trilaterale Vereinbarung Ukraine-Russland-EU ab, die das Land zu einer Brücke statt zu einer Festung gemacht hätte. Stattdessen entzündete die westliche Unterstützung für den Putsch gegen Präsident Janukowitsch im Februar 2014 eine vorhersehbare Krise in der Ostukraine, der die russische Intervention auf der Krim folgte. Die Minsker Vereinbarungen vom Februar 2015 ermöglichten einen Kompromiss, wurden in den folgenden sieben Jahren jedoch von den USA untergraben, ohne jeden Widerspruch aus der EU.

Der Zusammenbruch des Völkerrechts

Eine unipolare Machtverteilung untergräbt auch das Prinzip der "souveränen Gleichheit", da die Staaten sich nicht zügeln. In der Abwesenheit eines Machtgleichgewichts treibt der Westen Regeln souveräner Ungleichheit voran. Unter dem Deckmantel einer Verbreitung liberaler Werte beanspruchen NATO-Länder für sich das Vorrecht, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, Regierungen zu stürzen, einzufallen und Grenzen zu ändern.

Humanitarismus wurde genutzt, um Legitimität und Legalität voneinander zu trennen, als die NATO 1999 in Jugoslawien einmarschierte. Danach begann eine Debatte, die eine Ausnahme vom Völkerrecht forderte, da liberale Demokratien nicht von autoritären Staaten eingeschränkt werden sollten. Auch wenn mindestens 20 Prozent der Mitgliedschaft des Blocks nicht einmal von der staatlich finanzierten US-NGO "Freedom House" als solche gezählt wurden.

Es wurde einer "Allianz der Demokratien" das Wort geredet, als einer zur UN alternativen Autorität, die den illegalen Einmarsch in den Irak legitimierte, die dann als "Konzert der Demokratien" oder als "Liga der Demokratien" neu erfunden wurde. Diese Ideen haben sich zur "regelbasierten Weltordnung" weiterentwickelt, als einer Alternative zum Völkerrecht.

Die NATO hatte die liberalen Werte in Besitz genommen und daher das Recht und die "Verantwortung", sich ihre eigenen Ausnahmen vom Völkerrecht zu schnitzen.

Der Zusammenbruch des internationalen Wirtschaftssystems

Liberale internationale Wirtschaftssysteme bilden sich, wenn es eine Konzentration der Macht gibt, wie unter Großbritannien im 19. und unter den USA im 20. Jahrhundert. Der ökonomische Hegemon hat ein Interesse an der Entwicklung von Vorhersagbarkeit und Vertrauen für ein internationales System unter seiner Verwaltung.

Das System zerbricht jedoch, wenn es ihm nicht gelingt, sich an die Entstehung einer multipolaren Machtverteilung anzupassen. Der ökonomische Hegemon, der sich im Abstieg befindet, wird höchstwahrscheinlich seine Kontrolle über das System nutzen, um aufsteigende Rivalen zu schwächen. Der folgende Zusammenbruch zerstört das Vertrauen und schafft ein Verlangen nach Alternativen.

Die unhaltbare Verschuldung der USA und der EU hat schrittweise das Vertrauen in den Dollar und den Euro geschwächt, während die Beschlagnahme des iranischen, syrischen, venezolanischen und afghanischen Vermögens das Vertrauen in das ganze, auf den Westen ausgerichtete Finanzsystem untergräbt. Die Einhegung von Rivalen wie Russland und China endet bei der Militarisierung der Transportkorridore, während das Zögern, China angemessen am IWF zu beteiligen, Peking dazu veranlasst hat, parallele Institutionen zu errichten, wie die Asiatische Infrastrukturinvestitionsbank (AIIB). Der Wirtschaftskrieg von Präsident Trump gegen China schwächte das Vertrauen in die verlässliche Lieferung US-amerikanischer Technologien und Industrieprodukte. Die Antwort bestand darin, größere technologische Souveränität zu entwickeln und den Nachschub unter Umgehung der USA zu organisieren.

Die großformatigen Sanktionen, die gegen Russland verhängt wurden, haben auch den Rest der Welt getroffen, in Gestalt einer Energiekrise; es herrschen Nahrungsmittelknappheit, Inflation und allgegenwärtige wirtschaftliche Instabilität. Die Guthaben der russischen Zentralbank wurden eingefroren, und die EU diskutiert ständig darüber, sie zu beschlagnahmen, was der größte Bankraub der Geschichte sein dürfte. Die Herrschaft des Rechts ist auch aufgehoben, weil die Vermögen von Personen, denen Verbindungen zur russischen Regierung vorgeworfen wurden, ohne jedes Gerichtsverfahren eingefroren wurden. Durch den Wunsch, jegliche russische Energie zu verbannen, wird Russland gezwungen, seinen Fokus auf Exporte in den Osten zu lenken. Moskau wurde aus dem vermeintlich "unpolitischen" SWIFT-Zahlungssystem ausgeschlossen, und die Enklave Kaliningrad wurde unter eine Teilblockade genommen.

Ländern, die sich den unilateralen Sanktionen des Westens nicht anschließen, wird mit wirtschaftlichem Zwang gedroht. China ist vermutlich als Nächstes an der Reihe, da Washington eifrig die Idee bewirbt, die Welt künstlich in zwei Blöcke zu trennen, einen angeblich demokratischen Block gegen einen autoritären Block.

Die Regeln der Vergangenheit existieren nicht mehr, und wirtschaftliche Abhängigkeit birgt unerträgliche Risiken. Einfach gesagt, gibt es eine große Nachfrage nach alternativen Institutionen, die wirtschaftliche Erholung und pragmatische Zusammenarbeit fördern. Im Osten gibt es aufsteigende wirtschaftliche Riesen, die zuversichtlicher sind und entschlossen, ein internationales Wirtschaftssystem zu schaffen, das Vertrauen verdient.

Eurasische internationale Institutionen

Russland verfolgt nicht länger das Ziel eines Größeren Europa von Lissabon bis Wladiwostok, in dem Russland den Kontinent ernährt und Rohstoffe für europäische Industrien liefert, und im Gegenzug westliche Technologien und Industrieprodukte importiert. Die Größere Eurasische Partnerschaft ist nicht mehr nur ein Instrument, um schlicht die wirtschaftlichen Verbindungen vielfältiger zu gestalten, sondern wurde nun zu einer Notwendigkeit für eine vollständige wirtschaftliche Trennung vom Westen.

Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) strebt weiter danach, größere wirtschaftliche Kompetenzen zu entwickeln, und wird vermutlich im September Iran als neues Mitglied aufnehmen. BRICS bereitet sich ebenfalls auf eine größere Rolle bei der wirtschaftlichen Erholung vor und steht davor, Argentinien und Iran als neue Mitglieder aufzunehmen. Die Eurasische Wirtschaftsunion (EAEU) hat sich langsam entwickelt, obwohl es neue Anreize für gemeinsame Regelwerke gibt, um Autonomie und Stabilität in einer zunehmend chaotischen Welt zu fördern.

Das Gleichgewicht der Macht im multipolaren Größeren Eurasien führt zu mehreren Gemeinsamkeiten in den eurasischen internationalen Institutionen. Diese Organisationen konzentrieren sich auf das Prinzip der souveränen Gleichheit und das Völkerrecht in Übereinstimmung mit der Charta der UN. Widerstreitende Interessen zwischen den unterschiedlichen Polen der Macht stellen sicher, dass sich diese Institutionen auf Sicherheit mit anderen Mitgliedern statt auf Sicherheit gegen Nicht-Mitglieder konzentrieren. Die Werte bündeln sich um gemeinsamen Wohlstand, wie er von dem "Geist von Shanghai" gefordert wird, und Werte, die genutzt werden können, um souveräne Ungleichheit aufzunötigen, werden verachtet. Die multipolare internationale Machtverteilung im Größeren Eurasien verhindert zudem ein zentralisiertes internationales Wirtschaftssystem und konzentriert sich stattdessen auf die "Integration der Integrationen".

Für die absehbare Zukunft werden Russlands Waffen nach Westen weisen, und Russlands ökonomische Verbindungen werden sich nach Osten richten. Und das, obwohl die eurasischen Institutionen langfristig auch die Aufgabe erhalten sollten, die Zusammenarbeit mit den westlichen Ökonomien wieder herzustellen.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem Englischen.

Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südostnorwegen und Herausgeber der Zeitschrift "Russia in Global Affairs". Man kann ihm auf Twitter unter @glenndiesen folgen.

Mehr zum Thema – Gegenentwurf zur EU: Der eurasische Kontinent und das Konzept souveräner Nationalstaaten

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