Nahost

Israels Krieg gegen Hamas könnte das Ende von Gaza bedeuten

Mitten in der Welle allgemeiner Verwirrung ist die Behauptung nicht fundiert, der Geheimdienst und die Luftverteidigung des Landes hätten versagt. Aber bald könnte eine große Militäroperation im Gazastreifen dazu führen, dass diese palästinensische Exklave vollständig von Israel kontrolliert wird.
Israels Krieg gegen Hamas könnte das Ende von Gaza bedeutenQuelle: AFP © JACK GUEZ

Von Michail Chodarjonok

Am Sonnabend griffen militante Kämpfer der Hamas-Bewegung Israel an, eroberten in kurzer Zeit mehrere Grenzsiedlungen und übernahmen die Kontrolle über ein großes Gebiet.

Die Terroristen setzten Bulldozer ein, um die Zäune an der Grenze zum Gazastreifen zu überwinden. Im Verlauf der Kämpfe wurden offenbar auch Boote (für kleine amphibische Landungen) und Gleitschirme genutzt.

Die Terroristen nutzten den Überraschungsmoment des Angriffs und konnten die relativ großen israelischen Städte Sderot, Netiwot, Aschkelon und Ofakim sowie einige Siedlungen und Kibbuzim in den Grenzgebieten teilweise unter ihre Kontrolle bringen.

Kämpfer der Hamas stürmten auch Stützpunkte der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) in den Kibbuzim Re'im und Nahal Oz. Die Streitkräfte Israels erlitten erhebliche Verluste durch Tote, Verwundete und Gefangennahme. Die Gesamtstärke des Invasionstrupps wird auf etwa 1.000 Mann geschätzt (also im Wesentlichen ein verstärktes Bataillon).

Gab es ein Versagen der Geheimdienste?

Viele Beobachter haben die Erfolge der Hamas schnell auf Fehleinschätzungen der israelischen Sicherheitsdienste und der IDF zurückgeführt. Es besteht kein Zweifel, dass es einige Unzulänglichkeiten gab.

Generell ist jedoch der Vorwurf, die israelischen Sicherheitsdienste seien von dem Angriff überrascht worden, eindeutig übertrieben. Tatsächlich standen praktisch alle vorbereitenden Maßnahmen der Hamas am Vorabend des 7. Oktober nicht erkennbar im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer bewaffneten Invasion.

Schließlich hätte selbst der fortgeschrittenste technische Geheimdienst Israels per definitionem keine Bildung von Kampfgruppen, das Formieren in Einsatzgebieten, den Einsatz einer Nachhut und viele andere Dinge aufdecken können, die einer klassischen bewaffneten Invasion vorausgehen. Denn die Hamas traf keine entsprechend erkennbaren Vorbereitungen.

Ja, es gab wie immer eine gewisse Bewegung entlang der Grenzen des Gazastreifens zu Israel. Raketen des Typs Kassam wurden immer noch zu Hunderten und Tausenden in Werkstätten hergestellt, aber auch das ist eine alltägliche Aktivität im Gazastreifen. Wie immer gab es gewalttätige Demonstrationen, bei denen mit automatischen Gewehren, Maschinengewehren und Panzerfäusten gefuchtelt wurde, aber es ist nach wie vor sehr schwierig, die Bewegung von zwei oder drei Bulldozern in Richtung Grenze mit den Vorbereitungen für den Ausbruch eines militärischen Konflikts in Verbindung zu bringen.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Hamas für den Angriff vom Sonnabend gar keinen großen Nachschub an Waffen und militärischer Ausrüstung benötigte, der von den zuständigen Geheimdiensten hätte entdeckt werden können. Sie verfügte über ohnehin ausreichende Ressourcen für eine Militäraktion dieser Größenordnung, die abenteuerlich und selbstmörderisch und ohne entscheidende positive Ergebnisse für die Hamas war.

Es sollte hinzugefügt werden, dass es aus objektiven Gründen sehr, sehr schwierig ist, als Agent unter der Bevölkerung des Gazastreifens zu arbeiten. Hinzu kommt, dass nur ein sehr enger Kreis von Personen, die meist familiär miteinander verbunden sind, grundlegende Entscheidungen innerhalb der Hamas treffen darf.

Die Vorwürfe gegen die israelischen Geheimdienste haben also durchaus ihre Berechtigung, aber zugleich müssen alle oben genannten Umstände berücksichtigt werden.

Hat das israelische Militär versagt?

Von einigen Experten wird nun auch die Wirksamkeit des israelischen Raketenabwehrsystems Iron Dome bezweifelt. Der Punkt ist hierbei jedoch, dass jedes Flugabwehr- und Verteidigungssystem durch seine sogenannte Feuerrate begrenzt ist. Das ist die Fähigkeit, einen feindlichen Angriff aus der Luft bis zu einer bestimmten Dichte abwehren zu können, also eine bestimmte maximale Anzahl von Zielen (z.B. 25 pro Minute) erfassen, verfolgen und abschießen zu können.

Wenn der Feind in 20 Minuten 5.000 Kassam-Raketen abschießt, kann selbst ein Iron Dome diese Anzahl von Zielen nicht abwehren. Würde jedes Ziel mit zwei Raketen beschossen (wie bei Kampfeinsätzen üblich), wären mindestens 10.000 Abwehrraketen erforderlich, die jeweils 20.000 US-Dollar pro Stück kosten (und das sind die Preise 2014 gewesen). Es gibt Hinweise darauf, dass Israel bereits zusätzliche Systeme von den USA angefordert hat.

Es wurde auch berichtet, dass Hamas-Verbände mehrere Merkava-Kampfpanzer (einschließlich der neuesten Variante Merkava IV) von den israelischen Streitkräften erbeutet haben, von denen einige ausgebrannt sind. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die Terroristen in der Lage sein werden, diese Panzer im Kampf einzusetzen, da das ein völlig anderes Ausbildungsniveau erfordern würde. Einigen Berichten zufolge konnte die Hamas nicht einmal einen Merkava IV in Gang setzen, geschweige denn sein Feuerleitsystem bedienen.

Die Behauptung, die bewaffneten Einheiten der Hamas würden ihre Aktionen stützen auf die Analysen ihrer eigenen Erfahrungen und der Schwächen des Gegners sowie auf ein detailliertes Studium der neuesten Trends der modernen Militärtechnik in bewaffneten Konfliktgebieten, ist also eine Übertreibung einiger Analysten. Die Kämpfer zeigen nichts "Innovatives" in der Kriegskunst.

Was ist von Bodenkämpfen zu erwarten?

Was den möglichen Eintritt der Hisbollah (einer schiitischen Gruppe im Libanon und im Wesentlichen ein Stellvertreter Irans) in die Kämpfe an der Seite der Hamas betrifft, so könnte dies die Gesamtsituation für Israel sicherlich erschweren. Gleichzeitig sollten aber auch die Kampffähigkeiten der Hisbollah nicht überschätzt werden. Im Laufe des bewaffneten Konflikts in Syrien hat sich die Hisbollah nicht als beeindruckende militärische Kraft erwiesen, worüber sich auch russische Militärexperten durchaus im Klaren sind.

Ein wichtigeres und komplexeres Problem für die israelische Armee besteht darin, dass es im dicht besiedelten Gazastreifen praktisch unmöglich ist, Ziele der Hamas von Zivilisten zu unterscheiden, zumal die Terroristen die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde benutzen.

Die israelische Führung muss die strategischen Ziele in diesem Konflikt so klar wie irgend möglich beurteilen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass ihre hochtechnisierten, modernen Israelischen Verteidigungskräfte in der Lage sind, die Hamas-Verbände frontal zu besiegen: Die IDF haben bereits die Kontrolle über alle zuvor von den Terroristen besetzten Gebiete und Bevölkerungszentren zurückerobert.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass der Konflikt enden wird, wenn das israelische Militär an den Grenzen steht. Auf jeden Fall wird es die große Versuchung geben, den Hamas-Verbänden solche Verluste zuzufügen, dass diese Bewegung auf Jahre hinaus den bewaffneten Kampf aufgibt.

Deshalb werden wohl bald die modernsten Waffen der IDF zum Einsatz kommen, darunter mächtige bunkerbrechende Bomben. Darüber hinaus wird Israel ohnehin seine Kriegsgefangenen und Geiseln zurückholen wollen. Das bedeutet, dass jeden Tag eine allgemeine Militäroperation im Gazastreifen (Militärs und Politiker nennen das üblicherweise eine Bodenoperation) beginnen kann.

Es ist also nicht auszuschließen, dass das gesamte Gebiet der palästinensischen Exklave bald unter israelischer Kontrolle stehen wird.

Übersetzt aus dem Englischen.

Michail Chodarjonok ist Militärkommentator für RT.com. Er ist Oberst, heute im Ruhestand und diente zuvor als Offizier in der Hauptdirektion des Generalstabs der russischen Streitkräfte.

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